Das große Buch vom Räuber Grapsch
merken, aus denen sein Vorname zusammengesetzt war. Aber was taugen einzelne Buchstaben, wenn man sie nicht zu Wörtern zusammenziehen kann ?
„T-A liest man TA", erklärte Kasimir zum siebzehnten Mal geduldig.
„TA", antwortete Grapsch zum siebzehnten Mal geduldig. Kasimir zeigte auf das Wort TASSILO, das er groß an die Hauswand geschrieben hatte: „Und jetzt saust du einfach im Schnelltempo durch das ganze Wort, ohne Pausen." Grapsch stierte auf das Wort, klappte den Mund auf, klappte ihn wieder zu, schwitzte, grunzte und spuckte, und dann kam doch wieder nur „T-A-S-S-I-L-O", mit reichlich Pausen zwischen den Buchstaben, und ergab keinen Sinn.
Da konnte Kasimir einfach nicht mehr an sich halten. Mit beiden Händen zog er Grapsch so fest am Bart, dass Grapschs Kinn einen heftigen Ruck nach vorn machte. Grapsch bekam kugelrunde Augen, und schon fuhr ihm wie ein Geschoss das Wort aus dem Mund: „Tassilo!"
Nachdem es heraus war, starrte der Räuber den Clown verblüfft an und rief: „Das bin ja ich!"
„Du sagst es, Mann, du sagst es!", jubelte Kasimir. „Du kannst lesen!"
Grapsch wollte es nicht glauben. Aber Kasimir schrieb ihm die Namen seiner sieben Tassiloiiis in großen Blockbuchstaben an die Wand, und siehe da, Grapsch löste alle Buchstabenrätsel mit solchem Eifer, dass seine Spucke nur so spritzte. Auch OLLI und ATA schaffte er, und bei dem Wort OMA erriet er tollkühn das M. „Olli!", brüllte er, rannte in die Küche, fand sie dort nicht, rannte in den Keller und stürzte sich auf sie, die gerade Wäsche wusch. „Olli - ich kann dich lesen!" Dann kippten sie eng umschlungen in den Waschbottich, was Olli gleich zum Anlass nahm, Grapsch wieder mal gründlich zu säubern. „Lass das!", schnaubte er. „Ich bin in Eile!"
„Nur wer nicht lesen kann, kann sich's leisten, dreckig zu sein", antwortete Olli. „Du bist jetzt ein Leser, mein Superhirnchen!"
Noch am selben Tag konnte Grapsch alle Namen lesen, die es im Grapschenheim gab, von KASIMIR bis ELEFANT, von KLOMOBIL bis QUARKA. Er hatte jetzt den totalen Durchblick bekommen und entwickelte einen Heißhunger aufs Lesen. Olli schickte Oma Lisbeth auf die Suche nach ein paar alten Exemplaren der JUCKENER MORGENPOST, aber bis auf zwei armselige Fetzen hatten sie alle Zeitungen im Klomobil verbraucht. Eine Katastrophe!
Grapsch raste durchs Haus und suchte verzweifelt nach Lesbarem. Dunkel erinnerte sich Olli an drei Bücher, die sie damals aus Tante Hedwigs Häuschen mitgebracht hatte. Wo waren die bloß geblieben, verflixt noch mal ? Oma Ata entdeckte sie schließlich in einem finsteren Höhlenwinkel, über und über bekleckert mit Fledermauskot: ein Kochbuch, einen Weltatlas und „Die Geschichte der Juckenauer Sparschweinfabrik Fleiß & Preis AG". Grapsch zog sich mit den Büchern zu seiner Mutter in die kühle Höhle zurück und ließ sich drei Tage lang nicht mehr sehen. Sogar zu essen vergaß er. Dann hatte er die Bücher ausgelesen und wusste, wie man Serbisches Reisfleisch zubereitet, wo Addis Abeba liegt und wie viele Sparschweine die Fabrik im Jahr 1900 hergestellt hatte.
Aber das zu wissen war ihm längst nicht genug. Er war wie besessen. Und obwohl sich ihm Olli in den Weg warf, stürmte er noch in der Nacht mit dem großen Nikolaussack davon.
Am helllichten Morgen erreichte er die Juckenauer Stadtbücherei. Unter dem gellenden Geschrei der entsetzten Bibliothekarin fegte er mit seinen Pranken die Bücher reihenweise aus den Regalen in den Sack, bis der so voll war, dass er sich nicht mehr zubinden ließ. Dann verabschiedete er sich von der weinenden Frau mit einem Grinsen und den Worten: „Räuber lesen auch - und wie!" Ein Polizist sah ihn rennen und schoss auf den Sack. Zum Glück blieb die Kugel in dem dicken „Pippi-Langstrumpf"-Buch stecken.
Die Aufregung war groß. Noch am Vormittag schickte der Bürgermeister drei Schulklassen auf Grapschs Spur. Die war gesäumt von Büchern, denn der Sack war ja nicht zugebunden gewesen. Bis tief in den Wald wurden die Schüler fündig und freuten sich über die vier schulfreien Stunden. Und für jedes gefundene Buch bedankte sich die Bibliothekarin, deren Tränen noch nicht getrocknet waren, mit einem Eis am Stiel.
Hauptmann Stolzenrück sieht Gespenster
An die vielen erfolglosen Polizeieinsätze im Rabenhorster Wald erinnerte sich Hauptmann Stolzenrück nur ungern. Trotzdem durfte er dem Grapsch diesen Bücherraub - eine ungeheure Frechheit! -nicht einfach stillschweigend
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