Das große Haus (German Edition)
fast dunkel, als ich das Hotel erreichte. Das beengte, überheizte Foyer war mit einem Blumenmuster tapeziert, auf den kleinen Tischen, die sich hinten im Raum drängten, standen Seidenblumensträußchen, und an der Wand hing, obwohl es noch ein paar Wochen bis Weihnachten waren, ein großer Plastikkranz. Das Ganze vermittelte einem das Gefühl, man hätte ein Museum zur Erinnerung an längst ausgestorbene Blumensorten betreten. Eine Welle der schon im Bahnhof empfundenen Platzangst kehrte wieder, und als die Empfangsdame mich bat, das Anmeldeformular auszufüllen, war ich in Versuchung, irgendetwas zu erfinden, als könnte mir die Angabe eines falschen Namens und falschen Berufs die Befreiung einer neuen, noch unerschlossenen Dimension verschaffen. Mein Zimmer ging auf eine Backsteinmauer hinaus, und innen setzte sich das florale Thema in weiteren Ausschmückungen fort, sodass ich in den ersten Minuten, die ich in der Türöffnung stand, nicht glaubte, dort bleiben zu können. Wären nicht die Schmerzen in meinen schweren Beinen und meine Füße wie Bleiklumpen gewesen, hätte ich mich ziemlich sicher umgedreht und wäre gegangen; nur die Erschöpfung trieb mich hinein und ließ mich auf den Sessel mit seinen üppigen Rosenmotiven sinken, wo ich allerdings über eine Stunde wie gebannt sitzen blieb, unfähig, die Tür zu schließen, vor lauter Angst, allein mit so viel ersticktem künstlichem Leben eingeschlossen zu sein. Während die Wände mir immer näher zu rücken schienen, drängte sich mir, nicht in Worten ausbuchstabiert, sondern in der fragmentarischen Kurzschrift von Gedanken, die man allein für sich denkt, die Frage auf: Mit welchem Recht drehe ich einen Stein um, den sie nicht umgedreht haben wollte? Und da kam plötzlich dieses Gefühl wie Galle in mir hoch, eine Ahnung, die ich unterdrücken wollte, aber nicht konnte: dass ich mit dem, was ich tat, in Wirklichkeit ihre Schuld ans Licht bringen wollte. Sie gegen ihren Willen ans Licht bringen wollte, um sie zu bestrafen. Wofür, werden Sie vielleicht fragen, wofür die arme Frau bestrafen? Und die Antwort, die mir darauf einfällt und die nur ein Teil der Antwort sein kann, ist, dass ich sie für ihren unerträglichen Stoizismus bestrafen wollte, der es mir unmöglich machte, wirklich von ihr gebraucht zu werden, im tiefsten Sinne, in dem ein Mensch einen anderen Menschen brauchen kann, auf eine Art, die oft als Liebe bezeichnet wird. Natürlich brauchte sie mich – zum Aufräumen, zur Erinnerung der Einkäufe, um die Rechnungen zu bezahlen, ihr Gesellschaft zu leisten, ihr Freude zu machen, und am Ende um sie zu baden, abzutrocknen und anzuziehen, um sie ins Krankenhaus zu bringen und sie schließlich zu begraben. Aber dass sie mich als denjenigen brauchte, der diese Pflichten erfüllte, mich und nicht irgendeinen anderen, gleichermaßen in sie verliebten, gleichermaßen einsatzbereiten Mann, konnte ich nie so recht erkennen. Man wird vielleicht einwenden, ich hätte sie nie um einen Beweis ihrer Liebe gebeten, aber da muss ich sagen, ich habe mich nie so gefühlt, als hätte ich das Recht dazu. Vielleicht hatte ich auch Angst, dass sie, so ehrlich, wie sie war, unfähig, die geringste Unaufrichtigkeit zu ertragen, den Beweis am Ende nicht erbringen, dass sie stottern und verstummen würde, und was hätte ich dann noch für eine Wahl gehabt, außer aufzustehen und für immer zu gehen, oder weiterzumachen wie eh und je, aber nun mit dem zweifelsfreien Wissen, dass ich nur eine unter vielen Eventualitäten war? Nicht dass ich gedacht hätte, sie liebte mich weniger, als sie einen anderen Mann zu lieben in der Lage gewesen wäre (obwohl es Zeiten gab, in denen ich genau das befürchtete). Nein, wovon ich spreche oder wenigstens zu sprechen versuche, ist etwas anderes, nämlich das Gefühl, dass ihre Selbstgenügsamkeit – der Beweis, den sie in sich trug, dass sie unvorstellbaren Tragödien allein standhalten konnte, ein Standhalten, zu dem sie nur durch die extreme Einsamkeit, die sie um sich her geschaffen hatte, befähigt wurde, indem sie sich zurücknahm, sich in sich selbst verkroch, einen stummen Schrei in das Gewicht eigener Arbeit verwandelte – es ihr unmöglich machte, mich jemals so zu brauchen, wie ich sie brauchte. Mochten die Geschichten, die sie schrieb, noch so trostlos oder tragisch sein, das Ringen um ihre Entstehung, ihre Schöpfung, konnte immer nur eine Form von Hoffnung sein, eine Absage an den Tod oder ein Lebensschrei in sein
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