Das große Haus (German Edition)
Sinn ergab. Je länger ich darüber nachgedacht habe, umso weniger kam es mir vor wie eine Verzweiflungstat und umso mehr erschien es als der Höhepunkt einer verdeckten Logik. Ganz allein fand sie ihren Weg zu der Friedensrichterin. Gott weiß wie. Es gab Zeiten, in denen sie kaum den Weg zur Toilette fand. Trotzdem hatte sie immer noch klarsichtige Momente, in denen sich ihr Geist plötzlich versammelte, und dann fühlte ich mich wie ein Seefahrer, der von draußen auf dem Meer plötzlich die Lichter seiner Heimatstadt am Horizont aufleuchten sieht und wie wild aufs Ufer zuhält, aber nur, um sie im nächsten Moment wieder erlöschen zu sehen und genauso allein wie zuvor in der endlosen Dunkelheit zu treiben. So ein Moment muss es gewesen sein, sagte ich zu Gottlieb, der reglos mir gegenübersaß, in dem sich Lotte von ihrem Platz auf dem Sofa erhob, wo sie ferngesehen hatte, und während die Pflegerin in einem anderen Zimmer fleißig telefonierte, in aller Ruhe das Haus verließ. Ein alter Reflex wird sie daran erinnert haben, im Eingang ihre Handtasche vom Haken zu nehmen. Man kann fast sicher sein, dass sie mit dem Bus gefahren ist. Sie musste einmal umsteigen, eine Prozedur, die zu kompliziert für sie war, um allein damit fertigzuwerden, darum stelle ich mir vor, dass sie sich dem Fahrer anvertraute, ihn bat, ihr den Weg zu zeigen, wie wir es als Kinder gemacht hatten. Ich weiß bis heute, wie meine Mutter mich, als ich vier Jahre alt war, in Finchley in einen Bus setzte und den Fahrer bat, ein Auge darauf zu haben, dass ich an der Tottenham Court Road, wo meine Tante mich erwarten würde, aussteige. Ich erinnere mich an mein verwundertes Staunen, während wir durch die nassen Straßen fuhren, an den Blick, den ich von meinem Platz aus auf den muskulösen Nacken des Fahrers hatte, den Schauder von Glück und Stolz, allein mit dem Bus fahren zu dürfen, kombiniert mit einem Schauder Furcht, weil ich nicht glauben konnte, dass am Ende all der scheinbar so beliebigen Drehungen des riesigen, vom Fahrer gelenkten Steuerrads tatsächlich meine Tante mit ihren roten Wangen und ihrem komischen breitkrempigen roten Hut erscheinen würde. Vielleicht hat Lotte sich ähnlich gefühlt. Vielleicht hat sie aber auch, entschlossen wie sie war, überhaupt keine Angst verspürt und dem Fahrer, als er sie auf die richtige Station hinwies, ihr erklärte, in welchen Bus sie umsteigen müsse, eines jener breiten Lächeln geschenkt, die sie Fremden vorbehielt, als wüsste sie um ihre Fähigkeit, ihnen als ganz normale Frau zu erscheinen.
Als ich Gottlieb erzählte, was sich zwischen Lotte und der Friedensrichterin zugetragen hatte, ihm dann den Fund der Krankenhausbescheinigung und der Haarlocke zwischen Lottes Papieren beschrieb, fühlte ich mich erleichtert, von einer ungeheuren Last befreit, allein durch das Bewusstsein, nicht mehr der einzige Verantwortliche für ihr Geheimnis zu sein. Ich sagte ihm, dass ich mir wünschte, ihren Sohn zu finden. Gottlieb richtete sich auf und stieß einen langen Seufzer aus. Jetzt war ich es, der wartete, was er dazu sagte, denn es war klar: Ich hatte mich ihm anvertraut und würde so vorgehen, wie er entschied. Er setzte seine Brille ab, und seine Augen verkleinerten sich, zogen sich wieder zum scharfen Blick eines Anwalts zusammen. Er erhob sich vom Tisch, verließ das Zimmer und kehrte kurz darauf mit einem Schreibblock zurück, dann zog er seinen Füllhalter, den er immer bei sich trug, aus der Tasche. Er bat mich, ihm die Angaben auf der Krankenhausbescheinigung zu wiederholen. Er fragte ferner nach dem genauen Datum von Lottes Ankunft mit dem Kindertransport in London und nach den Adressen, wo sie gewohnt hatte, bevor ich sie kannte. Ich sagte ihm, was ich wusste, und er notierte sich alles.
Als er fertiggeschrieben hatte, legte er den Federhalter nieder. Und der Schreibtisch?, fragte er. Was ist aus dem Tisch geworden? Eines Abends im Winter 1970, sagte ich, klingelte ein junger Mann an unserer Tür, ein Dichter aus Chile. Er war ein Fan von Lottes Büchern und wollte sie kennenlernen. Ein paar Wochen lang wurde er zu einem Teil ihres Lebens. Ich konnte damals nicht begreifen, was an ihm Lotte – normalerweise ein so zurückhaltender, introvertierter Mensch – veranlasste, ihm so viel von sich zu geben. Ich wurde eifersüchtig. Eines Tages kam ich von einer Reise zurück und stellte fest, dass sie ihm den Schreibtisch geschenkt hatte. Ich war geplättet. Der Tisch, an den sie sich
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