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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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Gesicht. Und darin hatte ich nun einmal keinen Platz. Ob ich unten im Haus existierte oder nicht, sie fuhr fort, das zu tun, was sie immer allein an ihrem Schreibtisch getan hatte, und es war diese Arbeit, die ihr das Überleben erlaubte, nicht meine Fürsorge oder Gesellschaft. Unser Leben lang hatte ich darauf bestanden, dass sie es war, die von mir abhing. Sie, die beschützt werden musste, die schwach war und dauernde Umsorgung brauchte. Aber in Wahrheit war ich es, der das Gefühl brauchte, gebraucht zu werden.
    Unter großen Schwierigkeiten schleppte ich mich nach unten in die Hotelbar, um mich mit einem Gin Tonic zu beruhigen. Die einzigen anderen Trinker im Raum waren zwei alte Frauen, Schwestern, glaube ich, vielleicht sogar Zwillinge, zum Fürchten gebrechlich, die ihre Gläser mit verkrümmten Händen hielten. Zehn Minuten nachdem ich gekommen war, stand die eine auf und ging, die andere allein zurücklassend, so langsam hinaus, als führte sie eine Pantomime auf, bis die andere mit einiger Verzögerung ihren Platz im selben Schneckentempo räumte, wie eine grotesk verblödete Imitation der Trapp-Familie beim Abgang zu der Weise von «So Long, Farewell», und als sie an mir vorbeiging, schwenkte sie den Kopf und schenkte mir ein fürchterliches Grinsen. Ich lächelte zurück; die Bedeutung von Manieren, hat meine Mutter immer gesagt, verhält sich umgekehrt proportional zu der Neigung, sie anzuwenden, oder, in anderen Worten, manchmal steht nur Höflichkeit zwischen einem selbst und dem Wahnsinn.
    Als ich eine Stunde später in Zimmer 29 zurückkehrte, schien sogar die Luft einen Übelkeit erregenden Blumenduft angenommen zu haben. Ich kramte die Telefonnummer, die Gottlieb mir gegeben hatte, aus der Tasche. Ich wählte, und eine Frau antwortete. Könnte ich bitte Mrs.   Elsie Fiske sprechen?, fragte ich. Am Apparat, sagte sie. Wirklich?, hätte ich fast gesagt, weil ich zu einem nicht geringen Teil immer noch die Möglichkeit favorisierte, Gottliebs Detektivarbeit könnte in einer Sackgasse enden und ich, nachdem ich versucht hatte, Lottes Kind zu finden, und damit gescheitert war, nach London zurückkehren, nach Hause, in meinen Garten und zu meinen Büchern und der maulenden Gesellschaft des Katers. Hallo?, sagte sie. Es tut mir leid, sagte ich, das ist alles sehr misslich. Ich wollte Sie nicht unangenehm überraschen, aber es geht um eine ziemlich persönliche Angelegenheit, die ich gern mit Ihnen besprechen möchte. Wer ist da?, fragte sie. Mein Name ist Arthur Bender. Meine Frau – es ist mir wirklich sehr unangenehm, entschuldigen Sie bitte, ich versichere Ihnen, ich möchte Ihnen keinerlei Unannehmlichkeiten machen, aber meine Frau ist vor einiger Zeit gestorben, und ich habe erfahren, dass sie ein Kind hatte, von dem ich nichts wusste. Einen Jungen, den sie im Juli 1948 zur Adoption gegeben hat. Am anderen Ende der Leitung breitete sich ein drückendes Schweigen aus. Ich räusperte mich. Sie hieß Lotte Berg – begann ich, aber sie unterbrach mich. Was wollen Sie genau, Mr.   Bender? Ich weiß nicht, was in mich gefahren war, dass ich so offen sprach, vielleicht lag es irgendwie am Tonfall ihrer Stimme, an der Klarheit oder Intelligenz, die ich herauszuhören glaubte, jedenfalls sagte ich: Wenn ich diese Frage ehrlich beantworten wollte, Mrs.   Fiske, hätte ich Sie vielleicht die ganze Nacht am Telefon. Um es so direkt wie möglich zu sagen, bin ich nach Liverpool gekommen und frage mich, ob es nicht eine zu große Zumutung für Sie wäre, Sie um ein Treffen zu bitten, und wenn Sie es sich überlegt hätten und für richtig hielten, um ein Treffen mit Ihrem Sohn. Es folgte eine neue Pause, diesmal eine, die lang genug erschien, um die Vegetation wachsen und die Mauern entlangkriechen zu lassen. Er ist tot, sagte sie schlicht. Er ist seit siebenundzwanzig Jahren tot.
    Es war eine lange Nacht. Die Hitze im Zimmer war unerträglich, und immer wieder stand ich auf, um das Fenster zu öffnen und mich dann daran zu erinnern, dass es nicht zu öffnen war. Ich warf sämtliche Decken auf den Fußboden, lag, alle viere von mir gestreckt, auf der Matratze und atmete die Hitze, die aus dem Heizkörper aufstieg und meine Träume wie ein Tropenfieber infizierte. Es waren Träume ohne Worte, jenseits der Sprache, groteske Bilder von rohem, feuchtem, aufgedunsenem Fleisch, das in schwarzen Netzen von der Decke hing, und weißen Beuteln, die, Tröpfchen für Tröpfchen, auf dem Fußboden ein farbloses

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