Das große Haus (German Edition)
Rinnsal absonderten, Bilder aus den Albträumen meiner Kindheit, die jetzt zu guter Letzt wiederkehrten, sogar noch grässlicher als damals, weil ich in diesem halb halluzinatorischen Zustand begriff, dass sie nur meinem Tod angehören konnten. Wir müssen ein paar Unterschiede machen, sagte ich mir im Kopf wieder und wieder, oder vielmehr nicht ich, sondern eine geisterhafte Stimme, die ich für meine eigene hielt. Aber es gab einen Traum, der sich von dieser monströsen Parade abhob, einen einfachen Traum von Lotte an irgendeinem Strand, wie sie mit ihrem knöchernen Zeh lange Linien in den Sand zog, während ich, in Rückenlage auf den Ellbogen gestützt, zuschaute – ich im Körper eines sehr viel jüngeren Mannes, von dem ich ahnte, dass er, gleich einer Regenwolke am fernen Horizont dieses strahlenden Tages, nicht meiner war. Als ich aufwachte, blieb mir der Schreck über ihre Abwesenheit wie ein Kloß im Halse stecken. Ich trank hastig von dem Wasserhahn im Bad, und als ich pinkeln wollte, kam unter brennenden Schmerzen nur ein Tropfen, es fühlte sich an, als versuchte ich Sand herauszuspülen, und plötzlich, aus dem Nichts heraus, eben so, wie man Erkenntnisse über sich nur allzu oft erhält, dämmerte mir, wie lächerlich es doch war, sein Leben als Erforscher der sogenannten romantischen Dichter verbracht zu haben. Ich betätigte die Spülung. Dann nahm ich eine Dusche, zog mich an und räumte das Zimmer. Als die Empfangsdame mich fragte, ob alles zu meiner Zufriedenheit gewesen sei, lächelte ich und sagte, gewiss.
Ein langer Spaziergang in den Stunden nach dem Morgengrauen, an den ich mich kaum erinnere. Außer dass ich schon vor neun Uhr an dem Haus war, obwohl Elsie Fiske mich für zehn eingeladen hatte. Mein Leben lang hatte ich mich immer, wenn ich zu früh kam, befangen in einer Ecke herumgedrückt, vor einer Tür oder in einem leeren Raum gestanden, aber je mehr ich mich dem Tod nähere, desto früher komme ich an, desto länger mag ich warten, vielleicht um mir den falschen Eindruck zu verschaffen, es sei eher noch zu viel Zeit als zu wenig. Es war ein zweigeschossiges Reihenhaus, abgesehen von der Nummer neben dem Eingang nicht zu unterscheiden von den anderen an der Straße – die gleichen langweiligen Spitzengardinen, die gleiche eiserne Gardinenstange. Es nieselte, und um mich warm zu halten, ging ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf und ab. Etwas am Anblick dieser Spitzengardinen erfüllte mich mit beißenden Schuldgefühlen. Der Junge war tot, die Geschichte, um deren Erzählung ich Mrs. Fiske gebeten hatte, würde schlecht ausgehen. All die Jahre hatte Lotte mir die Geschichte von ihrem Sohn verborgen. Sosehr er sie auch geplagt hatte, er durfte unser Leben nicht stören. Unser Glück nicht stören, sollte ich besser sagen, denn das gehörte wirklich uns. Wie ein Gewichtheber unter einer riesigen Last hatte sie ihr Schweigen ganz allein getragen. Ihr Schweigen war ein Kunstwerk. Und ich stand im Begriff, es zu zerstören.
Um Punkt zehn Uhr klingelte ich. Die Toten nehmen ihre Geheimnisse mit ins Grab, sagt man. Aber das ist nicht wahr, oder? Die Geheimnisse der Toten haben virale Eigenschaften, sie finden einen Weg, sich in einem anderen Wirt am Leben zu erhalten. Nein, ich machte mich nur insofern schuldig, als ich das Unvermeidliche vorantrieb.
Ich glaubte zu sehen, dass die Gardinen sich bewegten, aber es dauerte eine Weile, ehe jemand an die Tür kam. Schließlich hörte ich Schritte, und ein Schlüssel drehte sich im Schloss. Die Frau, die vor mir stand, hatte sehr langes graues Haar, das ihr, wenn sie es offen fallen ließ, den ganzen Rücken hinunterreichen musste, aber sie trug es geflochten und oben auf dem Kopf aufgedreht wie eine, die gerade von der Bühne kommt, wo sie Tschechow gespielt hat. Sie hatte eine sehr aufrechte Körperhaltung und kleine graue Augen.
Sie führte mich ins Wohnzimmer. Ich wusste sofort, dass ihr Mann gestorben war und sie allein dort lebte. Vielleicht hat jemand, der selbst allein lebt, einen besonderen Sinn für die Schatten, die Töne und eigentümlichen Echos, die sich damit verbinden. Sie deutete auf das mit Posamenten verzierte Sofa, das überquoll von gehäkelten Kissen, alle, soweit ich sehen konnte, mit Motiven unterschiedlicher Hunde- und Katzenrassen. Ich setzte mich dazwischen; ein oder zwei Exemplare schlüpften mir auf den Schoß und machten es sich dort bequem. Ich begann einem ausgestopften kleinen schwarzen Hund
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