Das große Haus (German Edition)
künstliches Lächeln auf den Lippen, im Haus umschaute, sah ich sie frösteln und bemerkte, wie kalt es bei uns war. Da wusste ich, uns würde sie kein Kind geben.
Danach verfiel ich in einen Zustand, den man wohl, was ich damals noch nicht wusste, eine Depression nennt. Als ich viele Monate später wieder daraus auftauchte, hatte ich mich an den Gedanken eines Lebens ohne Kinder gewöhnt. Aber dann besuchte ich eines Tages meine Schwester, die nach London gezogen war, und beim Zeitungslesen fiel mein Blick zufällig auf eine kleine Anzeige ziemlich weit unten auf der Seite. Ich hätte sie leicht übersehen können, es waren nur ein paar kleingedruckte Worte. Aber ich sah sie: Baby, drei Wochen alter Junge, zur sofortigen Adoption abzugeben. Darunter stand eine Adresse. Ohne zu zögern, nahm ich ein Blatt Papier und schrieb einen Brief. Irgendwie hatte es mich gepackt. Mein Stift flog nur so über die Seite, versuchte mitzuhalten mit den Worten, die aus mir herausquollen. Ich schrieb alles auf, was ich der Dame in Gelb, die von der Adoptionsstelle gekommen war, einfach nicht hatte sagen können, und während mir die Buchstaben aus der Feder flossen, wusste ich, die Anzeige war nur für mich bestimmt. Der Junge nur für mich allein. Ich warf den Brief in den Postkasten und sagte John nichts davon. Ich wollte ihm nicht noch mehr zumuten, als ich es schon getan hatte; nachdem er mich in den schlimmsten Zuständen meiner Depression erlebt hatte, wäre es zu viel für ihn gewesen, jetzt mit anzusehen, wie ich einer blinden Hoffnung zum Opfer fiel. Aber ich wusste, es war keine blinde Hoffnung. Und tatsächlich, als ich ein paar Tage später nach Liverpool zurückkehrte, lag dort ein Brief für mich. Er war nur mit ihren Anfangsbuchstaben unterschrieben: L. B. Bis Sie gestern Abend anriefen, kannte ich ihren Namen nicht. Sie bat mich, ich solle sie in fünf Tagen, am 20. Juli, um vier Uhr nachmittags in der Schalterhalle der West Finchley Station treffen. Morgens wartete ich ab, bis John um acht zur Arbeit ging, dann machte ich mich schleunigst auf die Beine. Ich war auf dem Weg zu meinem Kind, Mr. Bender. Zu dem Kind, auf das ich so lange gewartet hatte. Können Sie sich vorstellen, was ich empfand, als ich in diesen Zug stieg? Ich war kaum in der Lage, still zu sitzen. Ich wusste, ich würde ihn Edward nennen, nach meinem geliebten Großvater. Natürlich musste er schon einen Namen haben, aber ich vergaß zu fragen, und sie sagte ihn mir nicht. Überhaupt sagten wir so wenig. Ich konnte kaum sprechen, und ihr ging es genauso. Vielleicht konnte sie auch sprechen, wollte aber nicht. Ja, ich glaube, das muss es gewesen sein. Sie hatte eine seltsame Ruhe an sich – es waren meine Hände, die zitterten. Erst später, irgendwann in den ersten Tagen, als das ganze Haus von neuen Babygerüchen erfüllt war, dachte ich wieder an den Namen, der sich wie ein Schatten hinter dem verbarg, den wir ihm gegeben hatten. Aber mit der Zeit vergaß ich es, und wenn schon nicht ganz, so dachte ich jedenfalls selten daran, außer in komischen Momenten, wenn irgendwo auf der Straße, in einem Laden oder im Bus ein Name gerufen wurde und ich stehen blieb und mich fragte, ob es der nicht gewesen sein könnte.
Als ich in London ankam, nahm ich die U-Bahn bis West Finchley. Es war ein warmer, sonniger Tag, und sie war die Einzige, die sich in der Schalterhalle aufhielt. Sie fixierte mich mit ihrem Blick, tat aber keinen Schritt vorwärts. Ich spürte, wie sie in mich hineinsah, unter die Haut. Eine seltsame Ruhe, ja, das hat mich verblüfft. Einen Moment lang dachte ich, es sei möglich, dass sie gar nicht die Mutter war, sondern jemand, den sie ersatzweise geschickt hatte, um ihr die bittere Aufgabe abzunehmen. Aber als sie die Decke beiseiteschob, ich hinging und das Gesicht des Babys sah, konnte es nur ihr eigenes sein. Als sie endlich etwas sagte, hörte ich ihren starken Akzent. Ich wusste nicht, woher sie kam, aus Deutschland oder Österreich vielleicht, aber ich begriff, dass sie ein Flüchtling war. Das Baby schlief, die verkrampften kleinen Fäuste von beiden Seiten am Gesicht zusammengeballt. Da standen wir also in der leeren Schalterhalle. Er mag es nicht, wenn ihm die Mütze zu tief über die Stirn rutscht, sagte sie. Das waren ihre ersten Worte an mich. Ein paar Momente später, sehr gedehnte Momente, sagte sie: Wenn Sie ihn über die Schulter legen, nachdem er gegessen hat, schreit er weniger. Und dann: Er bekommt leicht
Weitere Kostenlose Bücher