Das große Haus (German Edition)
entstehen sehen, den kleinen Tropfen Grau beobachtet haben, der wie aus einem Krug gegossen in die Haut des anderen eindrang und sich gleichmäßig verteilte, die dem Husten, dem Niesen, dem versammelten kleinen Gemurmel des anderen gelauscht haben, wie zwei Menschen, die eine gemeinsame Idee gehabt und es allmählich zugelassen haben, dass diese eine durch zwei getrennte, weniger hoffnungsvolle, weniger ambitionierte Ideen ersetzt wurde, redeten wir bis tief in die Nacht und den nächsten Tag und die Nacht danach hindurch. Vierzig Tage und vierzig Nächte, möchte ich sagen, aber tatsächlich waren es drei. Einer von uns hatte den anderen besser geliebt, hatte besser auf den anderen geachtet, einer von uns hatte zugehört und der andere nicht, und einer von uns hatte weitaus länger als vernünftig am Ziel der einen Idee festgehalten, während der andere sie eines Abends im Vorübergehen achtlos in den Müll geworfen hatte.
Und während wir redeten, entstand und entwickelte sich ein Bild meiner selbst, das auf S’ Verletztheit reagierte, wie ein Polaroid auf Hitze reagiert, ein Bild von mir, das ich neben jenes an die Wand hängen konnte, mit dem ich schon seit Monaten lebte – das Bild derer, die den Schmerz anderer zu ihren eigenen Zwecken benutzte, die sich versteckte, während andere litten, verhungerten oder gequält wurden, und sich ihres besonderen Wahrnehmungsvermögens, ihrer erhöhten Sensibilität für die unter den Dingen begrabene Symmetrie rühmte, die sich ohne viel Zutun selbst davon überzeugte, dass ihr wichtigtuerisches Projekt einem höheren Wohl diente, aber die in Wirklichkeit vollkommen nichtssagend war, absolut irrelevant, und schlimmer noch, eine Hochstaplerin, die ihre Geistesarmut hinter einem Berg von Worten versteckte. Ja, neben dieses hübsche Bild hängte ich jetzt ein anderes: das Bild einer so selbstsüchtigen und von sich selbst eingenommenen Person, dass sie die Gefühle ihres Mannes vollständig vernachlässigt hatte, ihm nicht einen Bruchteil jener Fürsorge und Aufmerksamkeit schenkte, mit denen sie sich das Gefühlsleben der Figuren vorstellte, die sie auf dem Papier entwarf, ihnen ein Innenleben gab, sich abmühte, ihre Gesichter mit dem richtigen Licht auszuleuchten, ihnen eine Haarsträhne aus den Augen zu wischen. Mit alldem beschäftigt, immer darum besorgt, nicht gestört zu werden, hatte ich mir kaum einmal einen Gedanken darüber gemacht, wie S sich beispielsweise fühlen mochte, wenn er nach Hause kam, durch die Tür trat und seine Frau schweigend fand, mit vorgebeugten Schultern ihm den Rücken kehrend, wie um ihr kleines Königreich zu schützen, wie er sich fühlen mochte, wenn er seine Schuhe auszog, die Post durchsah, die ausländischen Münzen in die jeweiligen Dosen fallen ließ und sich nur fragte, wie kalt ich sein würde, wenn er schließlich versuchte, sich mir über den wackeligen Steg zu nähern. Ich hatte kaum je innegehalten, um ihn überhaupt richtig zu beachten.
Nach drei Nächten, in denen wir redeten wie seit vielen Jahren nicht, kamen wir an das unvermeidliche Ende. Langsam, wie ein großer, herabsinkender Heißluftballon, der mit einem Plumps im Gras landet, hauchte unsere zehnjährige Ehe ihren Atem aus. Aber es brauchte Zeit, bis wir auseinander waren. Die Wohnung musste verkauft werden, die Bücher geteilt, aber wirklich, Euer Ehren, es ist nicht nötig, damit fortzufahren, es würde zu lange dauern, und ich fürchte, dass mir nicht viel Zeit mit Ihnen bleibt, also werde ich mich nicht in den Schmerz zweier Menschen vertiefen, die versuchen, ihr Leben Stück für Stück auseinanderzudividieren, die plötzliche Verletzlichkeit des Menschseins, den Jammer, das Bedauern, den Ärger, die Schuld und den Selbstekel, die Furcht und erstickende Einsamkeit, aber auch die unvergleichliche Erleichterung, und ich will nur sagen, dass ich mich, als alles vorüber war, wieder allein in einer neuen Wohnung befand, umgeben von meinen Sachen und dem, was mir von Daniel Varskys Möbeln blieb, die mir folgten wie eine Meute räudiger Hunde.
Ich glaube, den Rest können Sie sich vorstellen, Euer Ehren. Bei Ihrer Arbeit sehen Sie das sicher oft genug, wie Leute in einem fort dieselbe Geschichte wiederholen, immer wieder mit den alten Fehlern. Man sollte annehmen, dass jemand wie ich, mit genügend psychologischem Scharfsinn, um angeblich das feine kleine Muster aufzudecken, das dem Verhalten anderer zugrunde liegt, in der Lage wäre, aus den schmerzlichen
Weitere Kostenlose Bücher