Das große Haus (German Edition)
stattdessen weiter wie zuvor, und nicht nur wie zuvor, denn jetzt empfand ich eine schleichende Scham und einen Ekel vor mir selbst. In Gegenwart anderer – vor allem S’, dem ich natürlich am nächsten war – war dieses Gefühl besonders virulent, während ich es allein ein wenig vergessen oder zumindest ignorieren konnte. Nachts im Bett verdrückte ich mich an die äußerste Kante, und manchmal, wenn S und ich uns auf dem Flur begegneten, brachte ich es nicht fertig, ihm in die Augen zu blicken, und wenn er aus einem anderen Zimmer meinen Namen rief, musste ich eine gewisse Kraft, einen starken Druck aufwenden, um mich zu einer Antwort anzutreiben. Wenn er mich zur Rede stellte, sagte ich achselzuckend, es liege an meiner Arbeit, und wenn er mich nicht weiter mit dem Thema bedrängte, sondern Ruhe gab, wie er es immer tat, wie ich es ihm beigebracht hatte, mehr und mehr auf Abstand von mir blieb, wurde ich insgeheim wütend auf ihn, frustriert, dass er nicht merkte, wie schlimm meine Lage war, wie schrecklich ich mich fühlte, wütend auf ihn und vielleicht sogar angeekelt. Ja, angeekelt, Euer Ehren, das behielt ich nicht mir selber vor, von ihm angeekelt, weil er nicht gemerkt hatte, dass er seit all diesen Jahren mit einer Frau zusammenwohnte, die Falschheit zu ihrem Lebenswerk erklärte. Alles an ihm begann mich zu stören. Seine Art, auf dem Klo zu pfeifen, und wie er beim Zeitungslesen die Lippen bewegte, seine Gabe, jeden schönen Moment durch die Hervorhebung seiner Schönheit zu zerstören. Wenn ich nicht über ihn verärgert war, war ich wütend auf mich selbst, wütend und voller Schuldgefühle, ihm so viel Kummer zu bereiten, diesem Mann, dem es so leichtfiel, glücklich oder zumindest fröhlich zu sein, der ein Talent besaß, locker auf Fremde einzugehen und sie für sich einzunehmen, sodass es immer Leute gab, die keine Mühe scheuten, ihm einen Gefallen zu tun, aber dessen Achillesferse sein schlechtes Urteilsvermögen war, und der beste Beweis dafür die Tatsache, dass er sich willentlich an mich gebunden hatte – einen Menschen, der überall ins Fettnäpfchen trat, mit der gegenteiligen Wirkung auf andere, denen sich sofort die Nackenhaare sträubten, als befürchteten sie, einen Tritt gegen das Schienbein zu bekommen.
Und dann, eines Abends, kam er spät nach Hause. Es regnete draußen und er war pitschnass, sein Haar angeklatscht. Er kam in die Küche, immer noch im triefenden Mantel und mit matschigen Schuhen vom Park. Ich las gerade Zeitung, wie gewohnheitsmäßig jeden Abend, während er über mir stand und die Seiten volltropfte. Er hatte einen schrecklichen Ausdruck im Gesicht, und zuerst dachte ich, er habe etwas Grauenhaftes durchgemacht, einen fast tödlichen Unfall, oder einen Toten auf den Schienen der Subway gesehen. Er sagte: Erinnerst du dich an diese Pflanze? Ich konnte mir nicht vorstellen, worauf er hinauswollte, so vollkommen durchnässt, mit glänzenden Augen. Den Ficus?, fragte ich. Ja, sagte er, den Ficus. Du hast dich mehr für das Wohl dieser Pflanze interessiert als seit Jahren für meine Person, sagte er. Ich war bestürzt. Er schniefte und wischte sich das Wasser aus dem Gesicht. Ich kann mich nicht erinnern, wann du mich das letzte Mal gefragt hast, was ich von irgendetwas halte, irgendetwas, was von Belang sein könnte. Instinktiv streckte ich die Hand nach ihm aus, aber er zuckte zurück. Du hast dich in deiner eigenen Welt verloren, Nadja, in dem, was dort geschieht, und alle Türen abgeschlossen. Manchmal schaue ich dich im Schlaf an. Ich wache auf und schaue dich an und fühle mich dir näher, wenn du so ungeschützt daliegst, als wenn du wach wärst. Wenn du wach bist, kommst du mir vor wie jemand, der sich mit geschlossenen Augen auf der Innenseite seiner Lider einen Film ansieht. Ich erreiche dich nicht mehr. Früher konnte ich das einmal, aber jetzt nicht mehr, schon lange nicht. Und ich glaube, du gibst dir nicht die geringste Mühe, mich zu erreichen. Mit dir fühle ich mich mehr allein als mit sonst wem, selbst wenn ich einfach nur die Straße entlanggehe. Kannst du dir vorstellen, wie sich das anfühlt?
Er fuhr noch eine Weile fort, während ich ihm schweigend zuhörte, weil ich wusste, dass er recht hatte, und wie zwei Menschen, die einander, wie unvollkommen auch immer, geliebt haben, die, wie unvollkommen auch immer, versucht haben, ein gemeinsames Leben aufzubauen, die Seite an Seite gelebt und die Falten an den Augenwinkeln des anderen langsam
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