Das große Haus (German Edition)
niemand sie mehr bezahlte. Vielleicht hat sie auch geahnt, dass die Dinge eine böse Wendung nahmen, und sich dem entziehen wollen, solange sie noch konnte. Sie humpelte, ich glaube, es war Wasser im Knie, das herumschwappte, während sie unter emsigem Getrampel mit Wischer und Staubwedel von einem Raum zum anderen zog, seufzend, als hätte sie sich gerade an eine alte Enttäuschung erinnert. Sie bedeckte das dick bandagierte Knie mit ihrem Hausmantel und bleichte sich das Haar mit einem selbst angerührten Gebräu aus gefährlichen Chemikalien. Sie war eine fleißige Frau, aber manchmal unterbrach sie ihre Arbeit für eine Verschnaufpause und erzählte mir von ihrer Tochter in Constanţa, einer vom Staat miserabel bezahlten Gartenbauexpertin, deren Mann sie wegen einer anderen Frau verlassen hatte. Oder von ihrer Mutter, die ein kleines Stückchen Land besaß, es aber um keinen Preis verkaufen wollte, und an Rheumatismus litt. Bogna unterstützte sie beide, indem sie ihnen jeden Monat Geld und Kleider von Oxfam schickte. Ihr eigener Ehemann war vor fünfzehn Jahren an einer seltenen Blutkrankheit gestorben; jetzt gab es ein Heilmittel dafür. Sie nannte mich Isabella statt bei meinem richtigen Namen, Isabel, oder Izzy, wie die meisten mich nennen, und ich habe nie versucht, sie zu korrigieren. Ich weiß nicht, warum sie mit mir redete. Vielleicht sah sie eine Verbündete in mir, oder zumindest eine Außenseiterin, jemanden, der nicht zur Familie gehörte. Das entsprach nicht dem, wie ich mich selber sah, aber damals wusste Bogna mehr als ich.
Nachdem sie gegangen war, ging das Haus vor die Hunde. Es sackte zusammen und kehrte sich nach innen, wie aus Protest gegen die Härte, von seiner einzigen Anwältin im Stich gelassen zu werden. Schmutzige Teller stapelten sich in jedem Zimmer, verschüttetes Essen blieb liegen, wo es hingefallen oder geronnen war, der Staub wurde immer dicker und bildete eine graue Wildnis von Wollmäusen unter den Möbeln. Schwarzer Schimmel siedelte sich im Kühlschrank an, die Fenster blieben bei Wind und Wetter offen, Regenwasser ließ die Vorhänge faulen, und die Fensterbretter, dem Vermodern preisgegeben, schälten sich ab. Als ein Spatz hereinflog und orientierungslos unter der Decke herumflatterte, machte ich einen Witz über den Geist von Bognas Staubwedel. Ich stieß auf ein missmutiges Schweigen und begriff, dass Bogna, die sich drei Jahre lang um Joav und Leah gekümmert hatte, nicht mehr erwähnt werden durfte. Nachdem Leah ihre Reise nach New York unternommen hatte und das schreckliche Schweigen zwischen den Geschwistern und ihrem Vater eingekehrt war, gingen die beiden überhaupt nicht mehr aus dem Haus. Da gab es nur noch mich, die ihnen besorgte, was sie von der Außenwelt brauchten. Manchmal, wenn ich vor dem Frühstück das vertrocknete Eigelb vom Vortag aus der Pfanne kratzen musste, dachte ich an Bogna und hoffte, dass sie sich eines Tages in ein Häuschen am Schwarzen Meer zurückziehen konnte, wie sie es sich gewünscht hatte. Zwei Monate später, Ende Mai, wurde meine Mutter krank, und ich fuhr fast für einen ganzen Monat zu ihr nach New York zurück. Ich rief Joav alle paar Tage an, und dann ging bei den Geschwistern plötzlich niemand mehr ans Telefon. An manchen Abenden ließ ich es dreißig- oder vierzigmal klingeln, während sich mir der Magen verknotete. Als ich Anfang Juli wieder nach London kam, war das Haus dunkel, und die Schlösser waren ausgetauscht. Zuerst dachte ich, Joav und Leah wollten mir einen Streich spielen. Aber die Tage vergingen, und ich hörte nichts von ihnen. Am Ende blieb mir keine andere Wahl, als nach Hause zurückzufliegen, da ich in Oxford unterdessen hinausgeworfen worden war. Gekränkt und wütend tat ich dennoch alles, um die beiden zu finden. Aber ich kam nicht weiter. Das einzige Zeichen dafür, dass sie noch irgendwo am Leben waren, bestand in einer Kiste mit meinen Sachen, die ein halbes Jahr später ohne Absender an die Adresse meiner Eltern geliefert wurde.
Schließlich rang ich mich dazu durch, die seltsame Logik ihres Abgangs zu akzeptieren, eine Logik, in der ich während meiner kurzen Zeit mit ihnen geschult worden war. Joav und Leah waren Gefangene ihres Vaters, eingeschlossen hinter den Mauern ihrer Familie, und letztlich war es ihnen unmöglich, irgendjemand anderem zu gehören. Ich hatte all die Jahre nichts Geringeres erwartet als ihr ungebrochenes Schweigen und nie gedacht, dass ich sie je wiedersehen würde – was
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