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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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Verwandlung durch, wurde nach seinem unfehlbaren Geschmack vollkommen neu gestaltet. Tische, Stühle, Lampen oder Polsterbänke wurden in Kisten verpackt und hinausgetragen, während andere hereinkamen, um ihren Platz einzunehmen. So veränderten sich die Zimmer ständig und nahmen die geheimnisvollen, entwurzelten Stimmungen fremder Häuser oder Wohnungen an, deren Eigentümer gestorben, bankrottgegangen oder einfach zu dem Entschluss gekommen waren, sich von diesen Dingen, die sie jahrelang umgeben hatten, zu verabschieden und sie der Einfachheit halber George Weisz zu überlassen. Gelegentlich kamen potentielle Käufer, um sich ein bestimmtes Stück persönlich anzuschauen, und dann mussten Joav und Leah alles wegräumen, was sich an dreckigen Socken, aufgeschlagenen Büchern, fleckigen Zeitschriften und leeren Gläsern angesammelt hatte, seit die Putzfrau das letzte Mal da gewesen war. Aber die meisten von Weisz’ Kunden hatten es nicht nötig, selbst in Augenschein zu nehmen, was sie kaufen wollten, entweder wegen seines Rufs als Antiquitätenhändler von Weltklasse oder wegen ihres Reichtums oder weil es um Stücke ging, die für sie einen emotionalen Wert besaßen, der nichts mit dem Aussehen zu tun hatte. Wenn ihr Vater nicht unterwegs war, auf Reisen nach Paris, Wien, Berlin oder New York, lebte er in der Ha’Oren-Straße von Ein Karem in Jerusalem, in dem von blühendem Wein zugewachsenen Steinhaus, wo Joav und Leah ihre Kindheit verbracht hatten und dessen Fensterläden immer geschlossen blieben, um das strafende Licht draußen zu halten.
    Das Haus, in dem ich von November 1998 bis Mai 1999 mit ihnen zusammenlebte, war zwölf Minuten zu Fuß von der Nummer 20 Maresfield Gardens entfernt, wo Doktor Sigmund Freud nach seiner Flucht vor den Nazis gewohnt hatte, von September 1938 bis Ende September 1939, als er an drei Dosen Morphium starb, die ihm auf eigenen Wunsch verabreicht worden waren. Oft, wenn ich spazieren gehen wollte, landete ich dort. Als Freud Wien verließ, war fast alles, was ihm gehörte, in Kisten verpackt und nach London verfrachtet worden, in sein neues Heim, wo seine Frau und seine Tochter mit liebevoller Sorgfalt, bis ins letzte Detail, sein Arbeitszimmer genau so wiederaufbauten, wie es in der Berggasse 19 gewesen war. Damals wusste ich noch nichts von Weisz’ Arbeitszimmer in Jerusalem, und die poetische Symmetrie dieser Verwandtschaft zwischen seinem und dem Freud’schen Haus war mir entgangen. Vielleicht versuchen alle im Exil lebenden Menschen, aus Angst, an einem fremden Ort zu sterben, denjenigen wiederherzustellen, den sie verloren haben. Und doch, wenn ich in jenem Winter 1999 auf dem abgewetzten Perserteppich im Arbeitszimmer des berühmten Doktors stand, ermutigt von der heimeligen Atmosphäre und dem Anblick seiner vielen Kleinplastiken und Statuetten, war ich oft verblüfft über die Ironie, dass Freud, der wie kein anderer Licht auf die erdrückende Last der Erinnerung geworfen hatte, ihrem mythischen Zauber nicht besser widerstehen konnte als andere auch. Nachdem er gestorben war, erhielt Anna Freud den Raum genau so, wie ihr Vater ihn zurückgelassen hatte, bis hin zu der ein letztes Mal von seiner Nase genommenen und auf dem Schreibtisch abgelegten Brille. Mittwochs bis sonntags von zwölf bis fünf kann man den für immer in diesem Zustand fixierten Raum besichtigen, wie er in jenem Moment war, als der Mann, der uns einige der dauerhaftesten Vorstellungen darüber geschenkt hat, was eine Persönlichkeit ist, aufhörte zu sein. Am Eingang sitzt ein älterer Führer auf einem Stuhl und teilt Faltblätter aus, in denen der Besucher angeregt wird, die Besichtigung nicht nur als einen Rundgang durch ein Wohnhaus zu begreifen, sondern angesichts der vielfältigen Objekte und Sammlungen, die in den Räumen ausgestellt sind, auch als einen Rundgang durch das metaphorische Haus des Geistes.
    Ich sage: das Haus, in dem ich mit ihnen zusammenlebte, und nicht: unser Haus , weil ich trotz meines siebenmonatigen Aufenthalts dort nie das Gefühl irgendeiner Zugehörigkeit bekam, noch wurde ich je als etwas anderes betrachtet denn als privilegierter Gast. Der einzige Mensch, der außer mir regelmäßig ins Haus kam, war eine rumänische Putzfrau namens Bogna, die das wuchernde Chaos bekämpfte, das die Geschwister zu bedrohen schien wie ein Sturm am Horizont. Nach dem, was geschehen war, verließ Bogna das Haus, entweder weil sie der Unordnung nicht mehr gewachsen war oder weil

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