Das große Haus (German Edition)
sie taten, vollendeten sie kompromisslos, ohne die Komplikationen, denen unsereins durch Zögern, Schwanken und Bedauern ausgesetzt ist. Aber trotz allem, obwohl ich mich neu orientierte und mich nicht nur einmal neu verliebte, habe ich nie aufgehört, an Joav zu denken oder mich zu fragen, wo er wohl war und was aus ihm geworden war.
Dann, eines Tages im Spätsommer 2005, sechs Jahre nachdem sie verschwunden waren, bekam ich einen Brief von Leah. Sie schrieb, ihr Vater habe im Juni 1999, eine Woche nach seinem siebzigsten Geburtstag, in seinem Haus in der Ha’Oren-Straße Selbstmord begangen. Das Dienstmädchen habe ihn am nächsten Tag in seinem Arbeitszimmer gefunden. Auf dem Tisch neben ihm befanden sich ein versiegelter Brief an seine Kinder, eine leere Flasche Schlaftabletten und eine Flasche Scotch, ein Getränk, das Leah ihn sein Lebtag nicht hatte anrühren sehen. Außerdem lag dort ein kleines Heft von der Hemlock Society. Nichts blieb dem Zufall überlassen. Auf einem Tisch an der anderen Wand lag die kleine Sammlung der Uhren, die Weisz’ Vater gehört hatten und die er seit 1944, als der Vater in Budapest verhaftet worden war, nicht zum Stillstand hatte kommen lassen. Solange Weisz am Leben war, hatten die Uhren ihn auf allen Reisen durch die Welt begleitet, damit er sie pünktlich aufziehen konnte. Als das Dienstmädchen hereinkam , schrieb Leah, waren alle Uhren stehengeblieben.
Ihr Brief war mit einer kleinen, ordentlichen Handschrift geschrieben, in merkwürdigem Kontrast zu dem locker abgefassten und willkürlich zusammengefügten Inhalt. Es gab kaum eine Begrüßung, als wären nur ein paar Monate und nicht sechs Jahre vergangen, seit wir uns gesehen hatten. Nach den Neuigkeiten über den Selbstmord ihres Vaters ging es ziemlich lange um ein Gemälde, das in seinem Arbeitszimmer, dem Raum, in dem er sich das Leben genommen hatte, an der Wand hing. Es habe dort gehangen, solange sie zurückdenken könne, schrieb Leah, aber sie wisse, es habe eine Zeit gegeben, in der es noch nicht dort gewesen sei, in der ihr Vater noch danach suchte, genau wie er alle anderen Einrichtungsgegenstände dieses Raums gesucht und wieder in Besitz genommen hatte, dieselben Möbelstücke, die bis zum Abend, an dem seine Eltern 1944 von der Gestapo verhaftet worden waren, im Budapester Arbeitszimmer seines eigenen Vaters gestanden hatten. Jeder andere hätte sie auf immer verlorengegeben. Aber das war es, was ihren Vater unterschied, was ihn auf sein Gebiet führte und ihn dort vor allen anderen auszeichnete: Im Gegensatz zu Menschen, pflegte er zu sagen, verschwinden die leblosen Dinge nicht einfach. Die Gestapo hatte die meisten Wertgegenstände in der Wohnung konfisziert, und es gab deren viele, da Weisz’ Familie mütterlicherseits reich gewesen war. Sie wurden – zusammen mit Bergen von Geschmeide, Diamanten, Geld, Uhren, Gemälden, Teppichen, Tafelsilber, Geschirr, Mobiliar, Wäsche, Porzellan, ja sogar Fotoapparaten und Briefmarkensammlungen – auf den zweiundvierzig Eisenbahnwaggons langen «Goldzug» geladen, den die SS beim Vorrücken der Roten Armee benutzte, um jüdisches Eigentum aus Ungarn herauszuschaffen. Was zurückblieb, wurde von den Nachbarn geplündert. Als Weisz in den Nachkriegsjahren nach Budapest zurückkehrte, klopfte er zuerst bei diesen Nachbarn an die Tür, und während ihnen die Farbe aus dem Gesicht wich, stürmte er in ihre Wohnung, gefolgt von einem kleinen Trupp angeheuerter Schlägertypen, die sich die geraubten Möbel schnappten und sie auf dem Rücken heraustrugen. Er verfolgte eine Frau, die erwachsen geworden und mitsamt der Frisierkommode seiner Mutter umgezogen war, bis in die Außenbezirke der Stadt, brach mitten in der Nacht in ihr Haus ein, gönnte sich ein Glas Wein, das er schmutzig auf dem Tisch stehenließ, und trug die Frisierkommode persönlich hinaus, während die Frau tief und fest im Nebenzimmer schlief. Später, als Geschäftsmann, ließ Weisz solche Aufgaben von anderen erledigen. Aber wenn es um die Möbel seiner eigenen Familie ging, trat er immer persönlich in Erscheinung, um sie zurückzufordern. Der Goldzug wurde im Mai 1945 bei Werfen von den Alliierten beschlagnahmt. Der größte Teil der Ladung wurde in einer Salzburger Militärkaserne gelagert und später über Armeeläden verkauft oder bei Auktionen in New York versteigert. Bei diesen Stücken brauchte Weisz lange, bis er sie gefunden hatte, oft Jahre oder gar Jahrzehnte. Er setzte sich mit jedem
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