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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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Kleber war alt und trocken und gab leicht nach, als ich die Klappe mit dem Finger zu öffnen versuchte. Der Inhalt war eine kleine Locke feiner schwarzer Haare. Ich nahm sie heraus und legte sie in meine Handfläche. Aus Gründen, die ich nicht erklären kann, kam mir ein Haarbüschel in den Sinn, das ich als Junge einmal im Wald an einem niedrigen Ast gefunden hatte. Ich wusste nicht, von welchem Tier es stammen mochte, und im Geist sah ich ein majestätisches Geschöpf vor mir, groß wie ein Elch, aber sehr graziös, das sich lautlos über den Waldboden bewegte, ein magisches Wesen, das sich den Menschen niemals offenbaren würde, aber extra für mich und für mich allein ein Zeichen hinterlassen hatte. Ich versuchte, dieses frühe Bild abzuschütteln, etwas, woran ich wirklich über sechzig Jahre lang nicht mehr gedacht hatte, und mich auf das zu konzentrieren, was ich tatsächlich in der Hand hielt: das Haar des Kindes meiner Frau. Aber sosehr ich mich auch anstrengte, ich konnte an nichts denken als an dieses schöne Tier, das mit lautlosen Schritten durch die Wälder streifte, das nicht sprach, aber alles wusste, und mit großer Traurigkeit und großem Schmerz die Verheerungen des menschlichen Lebens sah, zum Unheil der eigenen Art und jeder anderen. Irgendwann fragte ich mich, ob ich nicht vor Müdigkeit halluzinierte, aber dann dachte ich mir: Nein, so ist es, wenn man alt wird, die Zeit verlässt einen, und die Erinnerungen kehren unwillkürlich wieder.
    Sonst war nichts in dem Umschlag. Nach einer Weile tat ich die Haarlocke wieder hinein und machte ihn mit einem Klebestreifen zu. Ich steckte ihn in die Plastikhülle und legte sie unten in die Schublade zurück, wo ich sie gefunden hatte. Dann sammelte ich alle Papiere auf, ordnete sie, so gut ich konnte, schloss die Schubladen der Kommode und schaltete das Licht aus. Inzwischen dämmerte es fast. Ich schlich die Treppe hinunter und ging in die Küche, um Wasser aufzusetzen. Im fahlen Licht glaubte ich zu sehen, wie sich unter den Azaleen am Gartentor etwas bewegte. Ein Igel!, dachte ich entzückt, obwohl ich keinen Grund hatte zu glauben, dass es einer sei. Was ist mit Englands Igeln geschehen? Diese freundlichen Geschöpfe, die ich als Junge überall gefunden hatte, wenngleich oft tot am Straßenrand. Was hat all unsere Igel umgebracht?, dachte ich, während der Teebeutel im dampfenden Wasser zog, und im Geist schrieb ich mir einen Merkzettel, ob ich mich daran erinnern würde oder nicht, ich schrieb es mir ins Gehirn, Lotte zu erzählen, dass sie einmal, vor langer Zeit, überall in diesem Land zu finden gewesen waren, diese entzückenden Nachttierchen, deren große Augen über ihre schreckliche Kurzsichtigkeit hinwegtäuschen. Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel weiß ein großes Ding, wie Archilochos sagte – aber was ist es? Einige Zeit verging, dann hörte ich sie aus dem Schlafzimmer nach mir rufen. Ja, meine Liebe, rief ich, unverwandt in den Garten hinausschauend. Da bin ich, ich komme.

Lügen der Kinder
    Ich traf Joav Weisz im Herbst 1998 und verliebte mich in ihn. Traf ihn auf einer Party in der Abingdon Road, weiter außerhalb, als ich je gewesen war. Und verliebte mich, was mir noch neu war. Zehn Jahre sind vergangen, und doch sticht diese Zeit aus meinem Leben hervor wie kaum eine andere. Joav war in Oxford, genau wie ich, aber er wohnte in London, in einem Haus in Belsize Park, das er mit seiner Schwester Leah teilte. Sie studierte am Royal College of Music Klavier, und oft hörte ich sie irgendwo hinter den Wänden spielen. Manchmal rissen die Töne plötzlich ab, und es folgte eine anhaltende Stille, nur unterbrochen vom Kratzen der Klavierbank oder Schritten, die sich über den Fußboden bewegten. Ich dachte, sie würde vielleicht auftauchen, um hallo zu sagen, aber dann kam die Musik wieder irgendwo aus der Versenkung. Ich war drei- oder viermal im Haus gewesen, bevor ich Leah endlich zu Gesicht bekam, und als sie vor mir stand, war ich überrascht, wie ähnlich sie ihrem Bruder sah, nur elfischer und weniger zuverlässig in Hinblick darauf, ob sie noch da wäre, wenn man gerade einmal wegschaute.
    Das Haus, ein stattliches, aber heruntergekommenes viktorianisches Backsteingebäude, war viel zu groß für die beiden und vollgestellt mit prunkvollen dunklen Möbeln, die ihr Vater, ein berühmter Antiquitätenhändler, dort aufbewahrte. Alle paar Monate kam er kurz in London vorbei, und dann machte das ganze Haus eine magische

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