Das große Haus (German Edition)
Auto vor unserem Haus in den Armen hielt, spürte ich es. War es nicht tatsächlich ungerecht von ihr, Mauern zu errichten und mich dann um Trost für das zu bitten, was dahinter vor sich ging? Und nicht nur ungerecht, sondern auch selbstsüchtig? Natürlich sagte ich nichts. Was hätte ich sagen sollen? Einst hatte ich Lotte versprochen, ihr alles zu verzeihen. Jetzt türmte sich die gewaltsame Tragödie des Jungen in der Dunkelheit über uns auf. Ich hielt sie fest und tröstete sie.
Eine Woche oder zehn Tage nachdem die Friedensrichterin Lotte nach Hause gebracht hatte, ging ich nach oben in ihr Arbeitszimmer, während sie auf dem Sofa einnickte. Es war anderthalb Jahre her, dass sie nicht mehr dort gewesen war, und auf ihrem Schreibtisch lag alles noch genauso da wie von ihr hinterlassen, nachdem sie ihren letzten Kampf mit dem versagenden Verstand ausgefochten und endgültig verloren hatte. Der Anblick ihrer Handschrift auf den gewellten Blättern schmerzte mich zutiefst. Ich setzte mich an ihren Tisch, den einfachen Holztisch, der ihr Arbeitstisch geworden war, seit sie den anderen vor mittlerweile fünfundzwanzig Jahren an Daniel Varsky verschenkt hatte, und legte meine gespreizten Hände darauf. Das meiste des Geschriebenen auf der obersten Seite war durchgestrichen, nur verstreut waren Zeilen oder Ausdrücke geblieben. Was ich mir zusammenreimen konnte, war weitgehend sinnlos, und doch zeigten die manischen Streichungen und wackeligen Buchstaben Lottes Frustration, die eines Menschen, der versucht, ein verhallendes Echo umzusetzen. Mein Blick fiel auf eine Zeile ziemlich weit unten: Der erstaunte Mann stand unter der Decke: Wer kann das sein? Wer um alles in der Welt kann das sein? Ohne Vorwarnung überfiel mich ein Schluchzen, wie eine Welle, die über ein flaches und ansonsten ruhiges Meer zielstrebig herangerollt war, um über meinem Kopf zusammenzuschlagen. Sie zog mich nach unten.
Danach erhob ich mich und begab mich zu dem Schrank, in dem Lotte ihre Papiere und Akten aufbewahrte. Ich wusste nicht, was ich suchte, stellte mir aber vor, dass ich früher oder später irgendetwas finden würde. Ich entdeckte alte Briefe von ihrem Verleger, Geburtstagskarten von mir, Entwürfe von Geschichten, die sie nie veröffentlich hat, Postkarten von Leuten, die ich kannte, und anderen, die ich nicht kannte. Ich suchte eine ganze Stunde lang, fand aber nichts, was irgendwie auf das Kind hingedeutet hätte. Auch keine Briefe von Daniel Varsky. Dann ging ich wieder nach unten, wo Lotte gerade aufwachte. Wir machten einen Spaziergang, wie jeden Nachmittag, seit ich im Ruhestand war. Wir schafften es bis zum Parliament Hill, beobachteten eine Weile das Spiel der Drachen im Wind und kehrten zum Abendessen nach Hause zurück.
Spätabends, nachdem Lotte eingeschlafen war, schlüpfte ich aus dem Bett, bereitete mir eine Tasse Kamillentee, blätterte müßig die Zeitung durch, und dann, als wäre ich gerade auf die Idee gekommen, machte ich mich auf nach oben, in die Dachstube. Ich öffnete andere Schubladen und andere Mappen, und sobald ich fertig war, offenbarten sich anstelle der gesichteten immer neue Schubladen und Mappen, manche beschriftet, andere nicht. Die Blätter schienen sich aus ihrem Zusammenhang zu lösen und auf Wanderschaft zu gehen, flogen auf dem Boden durcheinander, als hätte ein gelangweiltes Kind Papierherbst gespielt. Der Haufen, den Lotte in diesem trügerisch kleinen Schrank weggepackt hatte, schien kein Ende zu nehmen, und ich begann die Hoffnung zu verlieren, jemals zu finden, was mir vorschwebte. Und die ganze Zeit, während ich Fetzen und Briefe, Notizen und Manuskripte las, wurde ich das Gefühl nicht los, genau die Sorte von Verrat an Lotte zu begehen, die sie am unverzeihlichsten gefunden hätte.
Es war nach drei Uhr morgens, als ich schließlich die Klarsichthülle mit zwei Dokumenten fand. Das erste war eine vergilbte Entlassungsbescheinigung des East End Maternity Hospital, datiert auf den 15. Juni 1948. Unter Patientenname hatte jemand, eine Schwester oder Sekretärin, mit Schreibmaschine Lotte Berg eingetragen. Die angegebene Adresse war nicht die des Zimmers nahe dem Russell Square, sondern eine mir unbekannte Straße, die ich später auf dem Stadtplan in Stepney fand, nicht weit von dem Krankenhaus entfernt. Weiter unten stand, dass Lotte am 12. Juni, um 10.25 Uhr, einen Jungen geboren hatte und dass sein Gewicht 3731 Gramm betrug. Das zweite war ein verschlossener Umschlag. Der
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