Das große Haus (German Edition)
ihrem Leben genug gesehen hat, um darüber nicht die Nase zu rümpfen. Am Anfang haben wir uns manchmal herausgewagt, aber jetzt kaum noch. Eine Art Trägheit hat uns befallen. Wir haben den Garten, und Joav geht manchmal kurz nach draußen, aber es ist Monate her, seit ich ihn das letzte Mal vor der Tür gesehen habe.
Endlich kam sie zur Sache, dem eigentlichen Anliegen ihres Briefs: Ich kann so nicht weitermachen, sonst hören wir wirklich auf zu leben. Einer von uns wird etwas Schreckliches tun. Es ist, als lockte unser Vater uns jeden Tag näher zu sich hin. Es wird schwieriger zu widerstehen. Seit langem bemühe ich mich, den Mut aufzubringen, von hier wegzugehen. Aber wenn ich weggehe, darf ich nie zurückkehren, und ich darf Joav nicht sagen, wo ich bin. Sonst werden wir wieder da hineingezogen, und ich glaube nicht, dass ich es schaffen würde, mich dem ein zweites Mal zu entziehen. Darum weiß er also nichts davon. Wenn du es nicht schon erraten hast, Izzy, schreibe ich dir, weil ich dich bitten möchte herzukommen. Zu ihm. Ich habe keine Ahnung, wie dein Leben jetzt aussieht, aber ich weiß, wie sehr du ihn geliebt hast. Was ihr beide einander bedeutet habt. Du bist weiter in ihm lebendig, und sonst gibt es da nicht mehr viel. Ich war immer neidisch darauf, was du ihn hast empfinden lassen. Dass er jemanden gefunden hatte, der ihn empfinden ließ, was ich nie empfinden durfte.
Am Ende schrieb sie, sie könne erst gehen, wenn sie sicher wüsste, dass ich zu ihm kommen würde. Sie wolle sich nicht vorstellen müssen, was allein mit ihm passierte. Sie sagte nichts darüber, wohin sie gehen wollte. Nur, sie werde mich in zwei Wochen anrufen, um meine Antwort zu hören.
Ihr Brief löste eine Flutwelle von Gefühlen in mir aus – Traurigkeit, Leid, Freude, aber auch Ärger darüber, dass Leah offenbar glaubte, nach so vielen Jahren würde ich wegen Joav auf der Stelle alles fallenlassen, dass sie mich in eine solche Lage brachte. Es machte mir auch Angst. Ich wusste, es würde furchtbar schmerzlich sein, Joav wiederzusehen und zu fühlen, wegen dem, was aus ihm geworden war, und weil ich wusste, was er in mir entzünden konnte, eine unerträgliche Vitalität, die wie eine Fackel Licht auf meine innere Leere warf und sichtbar machte, was ich mir selbst kaum eingestehen mochte: wie lange ich nur halb gelebt und wie leicht ich dieses Weniger an Leben akzeptiert hatte. Ich hatte eine Arbeit wie jeder andere, auch wenn ich sie nicht mochte, ich hatte sogar einen Freund, einen netten, umgänglichen Mann, der mich liebte und eine Art zärtliche Ambivalenz in mir erzeugte. Trotzdem, kaum hatte ich den Brief beendet, wusste ich, dass ich zu Joav gehen würde. In seinem Licht erschien alles anders – die schwarzen Schatten, die schmutzigen Teller, die Teerdächer vor dem Fenster –, alles wurde intensiver, von einem Gefühlsrausch durchdrungen. Er weckte einen Hunger in mir – nicht nur nach ihm, sondern auch nach der Größe des Lebens, nach dem Äußersten, was zu fühlen uns gegeben ist. Sowohl Hunger als auch Mut. Später, im Rückblick darauf, wie leicht ich die Tür eines Lebens hinter mir geschlossen hatte und zu ihm in ein anderes geschlüpft war, kam es mir so vor, als hätte ich all die Jahre nur auf diesen Brief gewartet und um mich herum ein Kartenhaus aufgebaut, das ich, als er endlich kam, einfach umpusten und wegwerfen konnte.
In Erwartung des Anrufs war ich unfähig, noch an irgendetwas anderes zu denken. Nachts schlief ich kaum, und bei der Arbeit war ich fahrig, vergaß Sachen, die ich erledigen sollte, verlor Papiere, bekam Schwierigkeiten mit meinem Chef, der es sowieso auf mich abgesehen hatte und regelmäßig seinen Ärger an mir ausließ, wenn er nicht gerade auf meine Brüste oder Beine starrte. Als der Tag, an dem Leah anrufen wollte, endlich da war, meldete ich mich krank. Aus lauter Angst, ihren Anruf zu verpassen, wagte ich mich nicht einmal unter die Dusche. Der Morgen verging, der Nachmittag verging, es wurde Abend, es wurde Nacht, und es rührte sich immer noch nichts. Ich dachte, Leah habe es sich wohl anders überlegt und sei wieder verschwunden. Oder sie könne meine Nummer nicht finden, obwohl ich eingetragen war. Aber dann, um Viertel vor neun (in Jerusalem sehr frühmorgens), klingelte das Telefon. Izzy?, sagte sie, und ihre Stimme klang genau so, wie sie immer geklungen hatte, blass, wenn man eine Stimme so beschreiben kann, und leicht bebend, als hielte sie den Atem an. Ich
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