Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
Vom Netzwerk:
Leah – vielleicht auch beide – hatte eine Liste sämtlicher Adressen, wo sie gewohnt hatten, an die Innentür des Medizinschränkchens im dritten Stock des Hauses in Belsize Park geritzt: 19 Ha’Oren, Singel 104, Florastraße 43, 163 West 83rd Street, 66 Boulevard Saint-Michel … Insgesamt waren es vierzehn, und eines Nachmittags, als ich allein im Haus war, habe ich sie alle in mein Notizbuch übertragen.
     
    In paranoider Angst, seinen Kindern könnte etwas zustoßen, machte Weisz ihnen strenge Vorschriften, was sie tun durften, wo sie hingehen durften und mit wem. Ihr Leben wurde von einer Reihe humorloser Kinderfrauen, die sie fest im Griff hatten, überwacht und auf Schritt und Tritt begleitet, auch nachdem sie längst alt genug für eine gewisse Bewegungsfreiheit waren. Egal, um welchen Unterricht es ging, ob Tennis, Klavier, Klarinette, Ballett oder Karate, sobald die Stunden um waren, wurden sie von diesen muskulösen Frauen mit einer Vorliebe für dicke Strümpfe und Gesundheitsschuhe auf direktem Weg nach Hause gebracht. Jede Verschiebung oder Änderung ihres täglichen Stundenplans musste von ihrem Vater abgesegnet werden. Als Joav einmal schüchtern darauf hinwies, andere Kinder seien nicht solchen Regeln unterworfen, gab Weisz scharf zurück, dann würden diese Kinder wohl nicht so geliebt wie er und seine Schwester. Wenn es überhaupt Zeichen eines Protests gegen das Leben unter dem väterlichen Regiment gab, kamen sie in sehr verhaltener Form von Joav. Weisz schlug sie stets mit unverhältnismäßiger Gewalt nieder. Als wollte er verhindern, dass Joav je die Selbstsicherheit erwarb, ihm die Stirn zu bieten, fand er Wege, ihn immerfort herabzusetzen. Was Leah betrifft, so hatte sie immer getan, was ihr Vater verlangte, weil sie mit der besonderen Bürde lebte, ihres Vaters Liebling zu sein, und sie wusste, wenn sie gegen ihn aufmucken oder ihm, Gott bewahre, den Gehorsam verweigern würde, wäre das für ihn eine Art Hochverrat, genauso schlimm wie ein tätlicher Angriff.
    Als Joav sechzehn wurde und Leah fünfzehn, beschloss ihr Vater, sie auf die Internationale Schule in Genf zu schicken. Unterdessen waren die Kinderfrauen durch einen Chauffeur ersetzt worden, der sie genauso lückenlos beschattete, nur aus dem ledergepolsterten Inneren eines Mercedes Benz heraus. Aber Weisz konnte nicht mehr darüber hinwegsehen, wie sehr sich seine Kinder nach innen gekehrt hatten. Sie sprachen ein Kauderwelsch aus Hebräisch, Französisch und Englisch, das außer ihnen selbst niemand verstand, und fanden sich trotz ihrer Weltwanderungen ganz selbstverständlich mit einer Außenseiterrolle unter den Gleichaltrigen ab, ja schienen die Isolation sogar zu suchen. Weisz erkannte, dass sie nicht länger an so kurzer Leine gehalten werden durften. Möglicherweise hat er sogar, wie es selbst den blindesten, auf Holzwegen tappenden Eltern manchmal ergeht, irgendwie gespürt, dass seine Art, die Kinder zu erziehen, ihnen am Ende schaden oder sie schlimmstenfalls verkrüppeln würde, auf eine Weise, die er sich noch nicht vorstellen konnte.
    Er rief den Direktor an, Monsieur Boulier, und führte ein langes Gespräch mit ihm über die Schule, wie seine Kinder dort versorgt würden und was er sich davon erhoffte. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass Menschen einem gern ihre Gunst erweisen, wenn sie sich irgendwie an einen gebunden fühlen, und sei es nur durch einen Handschlag oder eine freundliche Unterhaltung. Ja noch besser war es, wenn sie glaubten, es gebe etwas, wodurch man sich ihnen erkenntlich zeigen könnte, und so beendete Weisz sein Telefongespräch mit Boulier, indem er ihm versicherte, er werde ihm ein Ebenbild seiner Mingvase besorgen, jenes Gegenstück zu der anderen, das seine Frau vor ein paar Jahren zerbrochen hatte, als eine größere Gesellschaft zum Abendessen da gewesen war. Weisz glaubte nicht an die größere Gesellschaft, aber es reichte ihm zu wissen, dass die Vase unter Umständen zerbrochen war, die Boulier immer noch quälten, dass nur ein perfekter Ersatz erlauben würde, die Erinnerung an den Vorfall in Vergessenheit geraten zu lassen.
    Weisz selbst fuhr nicht Auto – er ging möglichst zu Fuß, und sonst nahm er die Untergrundbahn wie jeder andere –, aber er bestand darauf, Joav und Leah in dem chauffierten Wagen von Paris nach Genf zu begleiten. Zur Mittagspause hielten sie in Dijon, und nach dem Essen in der dunklen Taverne an einer engen mittelalterlichen Gasse, die den Namen

Weitere Kostenlose Bücher