Das große Haus (German Edition)
eines Theologen aus dem siebzehnten Jahrhundert führte, durften die beiden unter Aufsicht des Chauffeurs in einem Buchladen herumstöbern, während Weisz jemanden traf, um etwas Geschäftliches zu besprechen. Weisz kam nirgendwohin, ohne irgendetwas zu erledigen, und wenn nichts anstand, dachte er sich etwas aus. Er hatte eine bestimmte Art, wie er sich mit den Fingern über die geschlossenen Augen fuhr, als wollte er sich etwas von den Augenlidern wischen, eine Geste, die ihm so eigen war, dass sie Joav wie ein Erkennungszeichen seines Vaters erschien. Als kleiner Junge hatte er immer gedacht, in solchen Momenten lausche sein Vater Dingen, die außerhalb des menschlichen Gehörs lägen, wie ein Hund.
Bei der Ankunft in Genf fuhren sie direkt zum Haus des Schulleiters, Monsieur Boulier. Die Kinder warteten mit Madame Boulier und ihrer asthmatischen Französischen Bulldogge im Wohnzimmer, wo sie Butterkekse essen durften, während ihr Vater hinter verschlossenen Türen mit dem Direktor sprach. Als die beiden Männer schließlich wieder aus dem getäfelten Arbeitszimmer hervorkamen, führte der Direktor sie zum Wohnbereich der Knaben, wo Joav bleiben sollte, und zog feierlich die Vorhänge auf, um den Ausblick auf die vielen Bäume im Park zu betonen. Weisz umarmte seinen Sohn, ehe er Leah quer durch die Stadt zum Haus einer pensionierten Englischlehrerin begleitete, wo sie in Gemeinschaft mit zwei älteren Mädchen leben sollte. Eines war die Tochter eines amerikanischen Geschäftsmanns und seiner thailändischen Frau, das andere die Tochter eines Mannes, der früher dem Schah als Militärbaumeister gedient hatte. Als Leah ihre erste Periode bekam, schenkte ihr das iranische Mädchen ein Paar seiner winzigen Diamantenstecker. Leah legte sie in einer kleinen Schachtel dekorativ auf ihre Fensterbank, zu anderen Souvenirs, die sie von ihren Reisen mitgebracht hatte. Dieses Jahr war das erste und, bis ich die Geschwister kennenlernte, das letzte Jahr, in dem Joav und Leah getrennt lebten.
Ohne seine Kinder wurde Weisz noch rastloser. Er schickte ihnen Postkarten aus Buenos Aires, Petersburg und Krakau. Was auf den Rückseiten stand, in einer Handschrift geschrieben, die mit seiner Generation aussterben wird (unstet und schwankend dank der laufenden Sprünge von einer Sprache in die andere, ehrwürdig durch ihre Unleserlichkeit), endete immer mit den Worten: Passt gut aufeinander auf, meine Liebsten. Papa. Während der Ferien und gelegentlich auch an Wochenenden nahmen Joav und Leah den Zug nach Paris, Chamonix, Basel oder Mailand, um sich entweder in einer Wohnung oder im Hotel mit ihrem Vater zu treffen. Auf diesen Reisen wurden sie manchmal für Zwillinge gehalten. Sie fuhren im Raucherabteil, Leah den Kopf ans Fenster gelehnt, Joav das Kinn auf die Hand gestützt, während schemenhaft die Alpen vorbeizogen und in der einbrechenden Dunkelheit von Zeit zu Zeit, zwischen langen, dünnen Fingern gehalten, die Zigaretten aufglommen.
Zwei Jahre nachdem Joav und Leah mit der Schule in Genf begonnen hatten, neun Jahre nachdem Weisz seinem Haus in der Ha’Oren-Straße entflohen war, kehrte er plötzlich dorthin zurück. Er gab seinen Kindern keine Erklärung. Wie bei vielen Dingen, über die schlicht und einfach nicht gesprochen wurde: In der Verständigung zwischen ihnen bedeutete Schweigen weniger ein Ausweichen als eine Möglichkeit für Eigenbrötler, dennoch eine Familie zu bilden. Obwohl er weiterhin viel unterwegs war, endeten die Reisen nun immer damit, dass Weisz seinen kleinen Koffer den überwucherten Weg zu jenem steinernen Haus hinauftrug, das seine Frau einst so geliebt hatte.
Joav und Leah genossen die neue Freiheit, die ihnen in der Schule gewährt wurde, aber sonst änderte sich kaum etwas für sie. Wenn überhaupt, wurde ihre Absonderung durch die starke Einbindung in schulische Aktivitäten und das nahe Zusammensein mit Gleichaltrigen nur noch unterstrichen, sodass sie sich tiefer in der Isolierung verwurzelten denn je. Sie nahmen das Mittagessen zu zweit ein und verbrachten ihre Freizeit miteinander, schlenderten durch die Stadt oder an den See, wo sie Bootsfahrten unternahmen, auf denen ihnen jedes Zeitgefühl abhandenkam. Manchmal aßen sie in einem der Cafés am Ufer ein Eis, jeder in eine andere Richtung starrend, jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Sie schlossen keine Freundschaften. In ihrem zweiten Genfer Jahr machte sich ein Junge, ein arroganter Marokkaner aus Joavs Wohngruppe, an Leah
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