Das große Haus (German Edition)
heran und bedrängte sie, mit ihm auszugehen; als sie ihm die kalte Schulter zeigte, brachte er das Gerücht auf, die beiden Geschwister hätten eine inzestuöse Beziehung miteinander. Sie taten ihr Möglichstes, um das Gerücht zu nähren, gaben mit Zärtlichkeiten an, indem sie sich gegenseitig die Köpfe in den Schoß legten und sich die Haare streichelten. Innerhalb der Schülerschaft war die Affäre bald eine anerkannte Tatsache. Sogar die Lehrer begannen, Leah und Joav mit einer Mischung aus Faszination, Horror und Neid zu betrachten. Irgendwann kochte die Sache über, und Monsieur Boulier hielt es für seine Pflicht, den Vater darüber zu informieren, was zwischen seinen Kindern vor sich ging. Er hinterließ Weisz eine Nachricht, und sogleich kam dessen Rückruf aus New York. Boulier räusperte sich, versuchte sich von einer Ecke anzunähern, zog wieder zurück, versuchte es von einer anderen Ecke, bekam einen Hustenanfall, bat Weisz, dranzubleiben, wurde von seiner Frau gerettet, die mit einem Glas Wasser herbeieilte und ihm einen strengen Blick schenkte, der ihm den Zwang der Notwendigkeit ins Bewusstsein zurückrief, und so nahm er den Hörer wieder auf und erzählte Weisz, was außer dem eigenen Vater alle anderen über seine Kinder wussten. Als er fertig war, herrschte Stille in der Leitung. Boulier zog die Augenbrauen hoch und warf seiner Frau einen ängstlichen Blick zu. Wissen Sie, was ich denke?, sagte Weisz schließlich. Ich kann es mir nur vorstellen, sagte Boulier. Ich denke daran, wie selten ich mich in Menschen täusche. Menschenkenntnis und eine richtige Einschätzung sind das A und O meiner Arbeit, und ich war immer stolz auf meinen scharfen Sinn dafür. Doch in Ihnen, das sehe ich jetzt, habe ich mich getäuscht, Monsieur Boulier. Ich gebe zu, ich habe Sie nie für besonders intelligent gehalten. Aber für so dumm nun auch wieder nicht. Hier begann der Direktor wieder zu husten und auch zu schwitzen. Wenn Sie jetzt so freundlich wären, mich zu entschuldigen, hier wartet jemand auf mich, sagte Weisz. Guten Tag.
Meistens war es Joav, der mir solche Geschichten erzählte, oft wenn wir nackt in seinem Bett lagen, rauchend im Dunkeln redeten, während sein Penis auf meinem Oberschenkel ruhte, meine Hand die Erhebung seines Schlüsselbeins erfühlte, seine Hand in meiner Kniekehle, mein Kopf in seiner Halsmulde lag, berauscht von dem einzigartigen Gänsehautgefühl, gerade wieder frisch in dieser gefährdeten Intimität gelandet zu sein. Später, als ich Leah besser kannte, hat sie mir auch manchmal Sachen erzählt. Aber die Geschichten blieben immer unvollständig, im Atmosphärischen, irgendwie umwittert und unerklärt. Ihr Vater war eine nur teilweise entworfene Figur, als würde sein komplettes Bild alles andere, sogar sie selbst, aus dem Blickfeld verdrängen.
Es stimmt nicht ganz, dass ich Joav auf einer Party traf, jedenfalls nicht zum ersten Mal. Ich war ihm schon vorher einmal begegnet, drei Wochen nach meiner Ankunft in Oxford, im Haus eines jungen Professors, der ein ehemaliger Student eines meiner Collegelehrer aus New York war. Aber an diesem Abend hatten Joav und ich kaum ein paar Worte gewechselt. Als wir uns wieder trafen, wollte er mir einreden, ich hätte bei dem Abendessen solchen Eindruck auf ihn gemacht, dass er sich schon überlegt habe, wie er mich wiedersehen könnte. Aber soweit ich mich erinnere, wirkte er während des ganzen Essens wechselweise gelangweilt oder geistesabwesend, als würde die eine Hälfte seiner selbst Bordeaux trinken und das Essen in mundgerechte Stücke schneiden, während die andere damit beschäftigt war, eine Ziegenherde über eine dürre Ebene zu treiben. Er sagte nicht viel. Ich wusste nur, dass er Englisch las und im dritten Studienjahr war. Nach dem Dessert stand er als Erster vom Tisch auf und erklärte, er müsse noch einen Bus nach London erwischen, ließ allerdings, als er sich von unserem Gastgeber und dessen Frau verabschiedete, keinen Zweifel daran, dass er, wenn er wollte, durchaus charmant sein konnte.
Mein Promotionsstudium war auf drei Jahre ausgelegt und enthielt wenig Verbindliches. Abgesehen davon, dass ich mich alle sechs Wochen mit meinem Supervisor treffen musste, war ich mir selbst überlassen. Meine Schwierigkeiten begannen bald nachdem ich angekommen war, als ich mit dem Thema, das ich mir vorgenommen hatte und bearbeiten wollte – der Einfluss des neuen Mediums Rundfunk auf die modernistische Literatur –,
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