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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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schlichtweg am Ende war. Es war das Thema meiner Abschlussarbeit auf dem College in New York gewesen, für die ich großes Lob von meinen Professoren geerntet, ja sogar eine Auszeichnung bekommen hatte, den Wertheimer Prize, benannt nach einem emeritierten Professor, der wie ein Geist im Rollstuhl aus dem ländlich verschnarchten Westchester zu der Feierstunde gekarrt worden war. Aber der mir zugeteilte Professor, der meine akademische Arbeit in Oxford betreuen sollte, ein glatzköpfiger Modernist vom Christ Church College namens A. L. Plummer, fackelte nicht lange, zerriss mein Konzept, dem der theoretische Überbau fehle, und bestand darauf, ich solle mir ein neues Thema suchen. Verkrampft auf einem wackeligen Stuhl zwischen den Büchertürmen seines Arbeitszimmers, unternahm ich einen schwachen Versuch, den Wert meiner Arbeit zu verteidigen, aber in Wirklichkeit hatte ich selbst das Interesse an der Sache verloren, und alles, was mir dazu einfiel, was es zu sagen geben konnte, hatte ich bereits auf den hundertsoundso viel Seiten meiner Abschlussarbeit gesagt. In dem Lichtstrahl, der durch ein hohes schmales Fenster fiel (so schmal, dass höchstens ein Zwerg oder ein Kind dadurch entfliehen konnte), schwebten Staubpartikel hernieder und setzen sich auf A. L. Plummers Kopf, wie vermutlich auch auf meinen eigenen. Mir blieb kaum eine andere Wahl, als die unendlichen Bestände der Bodleian Library nach einem neuen Thema zu durchforsten.
    Ich verbrachte die folgenden Wochen im Lesesaal der Radcliffe Camera, auf einem jener bequem gepolsterten, von menschlichen Sekreten befleckten Stühle, wie man sie fast überall auf der Welt in Bibliotheken findet. Er stand in der Nähe eines Fensters mit Ausblick auf das All Souls College. Draußen hing Wasser in der Luft, als würde dort ein wissenschaftliches Experiment durchgeführt – eines, das seit Tausenden von Jahren lief und das Wetter in England darstellte. Gelegentlich überquerten einzeln oder paarweise auftretende Gestalten in schwarzen Roben den Innenhof von All Souls und vermittelten mir den Eindruck einer Theaterprobe, bei der alle Worte und die meisten Regieanweisungen ausgeblendet waren, sodass nur die Auftritte und Abgänge übrig blieben. Dieses leere Kommen und Gehen erzeugte ein ungewisses, unsicheres Gefühl in mir. Ich las unter anderem die Essays von Paul Virilio – die Erfindung der Eisenbahn beinhalte die der Entgleisung und solche Sachen, die Virilio gerne schreibt –, habe das Buch aber nie zu Ende gebracht. Ich trug keine Uhr und verließ die Bibliothek gewöhnlich, wenn ich es nicht mehr aushielt und mir die Decke auf den Kopf fiel. Vier- oder fünfmal kam ich genau in dem Moment unten aus der Tür, in dem ein Student mit einem Kontrabass vorbeiging, den er wie ein ausgewachsenes Kind über das Kopfsteinpflaster schob. Manchmal war er gerade vorbei, und manchmal kam er gerade näher. Aber einmal trat ich aus der Tür, als er direkt davor war, und wir tauschten einen Blick aus, wie man ihn in seltenen Situationen mit Fremden austauscht, wenn beide wortlos darin übereinstimmen, dass die Wirklichkeit kratergroße Löcher enthält, deren Tiefe unergründlich scheint.
    Ich wohnte in einem Zimmer an der Little Clarendon Street, wo ich – abgesehen von der Bibliothek – die meiste Zeit verbrachte. Ich war seit jeher, aber damals besonders, eine schüchterne und nicht übermäßig selbstbewusste Person, der es genügte, ein oder zwei enge Freundinnen zu haben, einmal sogar einen Freund, mit dem ich etwas unternahm, wenn ich nicht allein sein wollte. Ich stellte mir vor, dass ich irgendwann auch in Oxford so jemanden oder solche Leute kennenlernen würde. Derweilen hielt ich mich an mein Zimmer.
    Außer einem großen Reststück Teppichboden, das ich mit dem Bus vom nördlichen Ende der Banbury Road nach Hause geschleppt hatte, einem elektrischen Wasserkocher und einer Flohmarktsammlung viktorianischer Tassen und Untertassen war nicht viel darin. Ich bin immer am liebsten mit leichtem Gepäck gereist; irgendwie brauchte ich das Gefühl, ich könnte jederzeit ohne großen Aufwand wieder gehen, wo immer ich bin. Die Vorstellung, mich mit Sachen zu beladen, war mir unheimlich, als lebte ich auf einem zugefrorenen See, wo jedes neuerworbene Stück häuslichen Lebens – ein Topf, ein Stuhl, eine Lampe – eins zu viel und dasjenige sein konnte, das mich ins Eis einbrechen ließ. Die einzige Ausnahme waren Bücher, die ich mir nach Belieben anschaffte,

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