Das große Haus (German Edition)
weil ich niemals das Gefühl hatte, sie gehörten wirklich mir. Deswegen fühlte ich mich auch nicht gezwungen, Bücher, die mir nicht gefielen, zu Ende zu lesen, oder gar unter Druck, sie überhaupt zu mögen. Diese Art Verantwortungslosigkeit ließ mir andererseits die Freiheit, mich angesprochen zu fühlen. Wenn ich irgendwann an das richtige Buch geriet, überwältigten mich heftige Gefühle: Sie rissen Löcher in mir auf, mit denen es sich gefährlich lebte, weil ich nicht beherrschen konnte, was da herauskam.
Ich hatte Englisch als Hauptfach gewählt, weil ich gern las, nicht weil mir etwas vorschwebte, was ich im Leben damit machen wollte. Doch im Lauf dieser Herbstmonate in Oxford änderte sich meine Beziehung zu Büchern. Es geschah schleichend, fast ohne dass ich etwas davon merkte. Je mehr Wochen vergingen, umso mehr fehlte mir jegliche Idee, worüber ich wohl drei Jahre lang eine Dissertation schreiben sollte, und die riesige Aufgabe erdrückte mich. Eine vage, untergründige Angst befiel mich, sobald ich in der Bibliothek saß. Zuerst war mir kaum bewusst, was los war, ich empfand nur ein leichtes Unwohlsein in der Magengrube. Aber das Übel verstärkte sich mit jedem Tag, schnürte mir den Hals zu, genau wie das Gefühl zielloser Vergeblichkeit. Ich las, ohne die Bedeutung der Worte aufzunehmen. Ich blätterte zurück und setzte noch einmal bei der Stelle an, die mir als Letztes in Erinnerung geblieben war, aber nach einer Weile lösten sich die Sätze wieder auf, und ich glitt wie zuvor selbstvergessen über die leeren Seiten, ähnlich den Insekten, die man über die Oberfläche stehender Gewässer huschen sieht. Ich fühlte mich zunehmend entnervt und begann mich vor der Bibliothek zu fürchten. Ich bekam Angst vor der eigenen Angst. Schon beim Betreten der Bibliothek brach ich in Panik aus. Dass die Panik ans Lesen gebunden war – an das, was immer, solange ich zurückdenken konnte, den Mittelpunkt meines Lebens und in der Vergangenheit ein Bollwerk gegen die Verzweiflung gebildet hatte –, machte es besonders schwierig. Bis dahin war ich oft genug traurig gewesen, aber ich hatte nie diese innere Belagerung erlebt, als hätte mein Wesen eine Allergie gegen sich selbst entwickelt. Nachts lag ich wach und fühlte mich, obwohl ich mich nicht rührte, in immer höhere Ebenen entschweben.
Unfähig zu arbeiten, verbrachte ich meine Tage damit, durch die Straßen von Oxford zu laufen, sah mir Filme im Phoenix Picturehouse an, durchstöberte die alten Drucke in dem Laden an der High Street oder verschwendete meine Zeit mit der Betrachtung von Skeletten, Werkzeugen und rissigen kleinen Schalen verschwundener Völker in den Ausstellungsräumen des Pitt Rivers Museum. Aber bei alledem nahm ich kaum wahr, was ich vor Augen hatte. Ich empfand eine Gedämpftheit im Kopf und eine Stummheit in meinem Innersten, als wäre irgendwo ein Stellwerk geschlossen worden. Im Lauf der Wochen verlor ich jedes Selbstgefühl. Über Nacht, so schien es, hatte jemand meine körperliche Hülle ihres Inhalts entleert, obwohl sie immer noch durch die Gegend spazierte, als wenn nichts gewesen wäre. Aber Leere bedeutete keine Apathie: Angst, Einsamkeit und Verzweiflung lauerten an jeder Ecke und warteten auf die Gelegenheit, meine physische Fortbewegung über die Straße zu boykottieren. Immerfort mit diesem Hindernislauf beschäftigt, ohne irgendein Ziel vor mir, wünschte ich mir nur noch, mich zu Hause in mein Kinderbett zu verkriechen und mir die Decke über den Kopf zu ziehen, den vertrauten Waschmittelgeruch in der Nase und die murmelnden Stimmen meiner Eltern vom anderen Ende des Flurs in den Ohren. Eines Abends, nachdem ich stundenlang ohne Sinn und Zweck umhergeirrt war, blieb ich auf dem Rückweg in mein Zimmer vor einem Feinkostladen an der St. Giles’ stehen. Beim Anblick der Leute, die mit Tüten voller Marmeladen, Pasteten, Chutneys und frischen Broten herauskamen, dachte ich an meine Eltern, wie sie mit Pantoffeln an den Füßen und gebeugten Rücken über dem Abendessen in der Küche saßen, während in dem kleinen Fernseher in der Ecke die Nachrichten liefen, und plötzlich begann ich zu weinen.
Vielleicht hätte ich kurz entschlossen meine Sachen gepackt und wäre zurückgefahren, wenn ich die Enttäuschung meiner Eltern nicht so gefürchtet hätte. Sie hätten es nicht verstanden. Es war mein Vater gewesen, der mich zu der Bewerbung gedrängt hatte, der beim Abendessen große Reden geschwungen hatte, wie
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