Das große Haus (German Edition)
von Christ Church dabei gewesen war. Aber meine Lage wurde immer schlimmer. In dem Zustand, in dem ich mich befand, konnte ich mich kaum noch überwinden, nach draußen zu gehen und mich unter Menschen zu begeben. Schon um den Mund aufzumachen und im Tuck Shop ein Sandwich zu bestellen, musste ich meine letzten Körnchen Selbstbehauptungswillen zusammenkratzen. Allein in meinem Zimmer, wimmerte ich, in eine Decke gewickelt, vor mich hin oder führte Selbstgespräche in Erinnerung an den verlorenen Glanz meiner Jugend, da ich mir selbst und anderen als eine aufgeweckte, fähige Person erschienen war. Ich fragte mich, ob ich nicht eine Art psychotischen Zusammenbruch erlebte, so etwas, was einen Menschen, der bis dahin ein normales Leben geführt hat, hinterrücks überfällt und ihm eine neue, von Qualen und Kämpfen gezeichnete Existenz verheißt.
Irgendwann in der ersten Novemberwoche sah ich mir im Phoenix einen meiner Lieblingsfilme an, Tarkowskys Der Spiegel. Ich saß noch da, als die Lichter im Saal schon hell erleuchtet waren, weinend oder kurz davor. Schließlich sammelte ich meine Siebensachen, stand auf und wollte gehen, als ich im Foyer einem schlauen, großspurigen, schwulen Kommilitonen in die Arme lief, Patrick Clifton, der im selben Stipendienprogramm wie ich Politikwissenschaften studierte. Er ließ seine spitzen kleinen Zähne blitzen und lud mich für den Abend zu einer Party ein. Ich weiß nicht, warum ich angenommen habe, obwohl mir so wenig danach zumute war. Vielleicht aus Verzweiflung oder einem Rest an Selbsterhaltungstrieb. Aber kaum angekommen, habe ich es auch schon bereut. Die Party fand in South Oxford in einem zweistöckigen Haus statt, dessen Zimmer in unterschiedlich getöntes Licht getaucht waren, eins in Purpurrot, ein anderes in Grün, was dem Ganzen eine muffelige Stimmung verlieh, verstärkt durch eine unbeschreibliche Musik, zu der mir nichts anderes einfällt als Gruftiklänge aus dem Neolithikum. Auf der Treppe dröhnte man sich zu, und in dem Raum mit der lautesten Musik bewegte sich ein zusammengewürfelter Haufen teilnahmsloser Körper. Hinten war eine lange Küchenzeile mit rissigen, schmutzigen Fliesen und eimerweise Bier auf Eis. Zwanzig Minuten nach unserer Ankunft hatte ich Patrick aus den Augen verloren, und da ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, machte ich mich auf die Suche nach einem Klo. Ich fand eines im ersten Stock, das jedoch besetzt war, und so lehnte ich mich wartend an die Wand. Drinnen brach Gelächter aus, das von zwei oder sogar drei Personen stammte. Es schien unwahrscheinlich, dass sie in absehbarer Zeit herauskämen, aber ich blieb trotzdem stehen. Nach zehn Minuten erschien leibhaftig Joav Weisz in dem blauen Flurlicht. Ich erkannte ihn sofort, weil er aussah wie kein anderer. Er hatte dickes kastanienbraunes Haar, das in hohen Wellen von seinem Kopf abstand und in einem Schwung über seine Stirn fiel, ein langes, schmales Gesicht, sehr weit auseinanderstehende dunkle Augen, eine steile Nase, die in gewölbten Nasenlöchern endete, und volle Lippen mit einem natürlichen Abschwung an den Mundwinkeln – ein Gesicht, das bald himmlisch und bald teuflisch wirken konnte und direkt, ohne Retusche, aus der Renaissance oder gar dem Mittelalter überkommen schien. Du, sagte er mit einem schiefen Grinsen.
Die Klotür öffnete sich und ein Paar taumelte heraus, im selben Moment überkam mich eine unwiderstehliche Übelkeit, und ich wusste, das Erbrechen war nicht aufzuhalten. Ich stürzte zur Toilette, klappte den Deckel hoch und sank auf die Knie. Als ich fertig war, blickte ich auf, und zu meinem Entsetzen stand Joav über mir. Er bot mir ein Glas trübes Wasser aus dem Hahn an. Während ich trank, beobachtete er mich mit Besorgnis, ja sogar Zärtlichkeit. Ich sagte etwas über das Essen von irgendeinem Dönerwagen, das ich wohl nicht vertragen hätte. Wir standen schweigend da, als wären wir verpflichtet, jetzt, wo wir einmal drin waren, so lange im Klo zu bleiben wie das andere Paar. Ich sah flüchtig, dunkel und etwas verzerrt meinen Abglanz im Spiegel; ich hätte gern näher hingeschaut, um zu sehen, wie schlimm es um mich stand, aber vor Joav war es mir peinlich. Bin ich denn so hässlich?, sagte er schließlich. Was?, fragte ich und stieß einen kleinen Lacher aus, der allerdings eher ein Schnauben wurde. Wenn hier jemand hässlich ist – begann ich. Nein, sagte er, indem er eine Haarsträhne von meinen Augen entfernte, du bist schön. Er
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