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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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ich mich sogar selbst als so ein Kind geträumt habe. Dabei war es Joav, der seine Mutter verloren hatte, nicht ich. Im Wachzustand wanderte er ständig auf und ab oder klopfte mit dem Fuß auf den Boden. Er musste laufend den Überschuss an Energie loswerden, den sein Körper produzierte, obwohl diese frenetische Aktivität irgendwie vergeblich war, weil es für das Verbrauchte immer sofort Nachschub gab. Wenn ich mit ihm zusammen war, hatte ich den Eindruck, alles sei ununterbrochen in Bewegung, bewege sich zu etwas hin – ein Gefühl, das mich nach den Beklemmungen der letzten Monate erregte, gleichzeitig aber auch Balsam für meine Nerven war. Und wenn ich seine Traurigkeit spürte, wusste ich weder woher sie kam, noch wie tief sie ging. Schau mich nicht so an, sagte er oft. Wie?, fragte ich. Als wäre ich auf der Station für Unheilbare. Aber ich bin eine gute Krankenschwester. Wie soll ich das wissen?, fragte er. So, sagte ich. Schweigen. Hör nicht auf, stöhnte er, ich habe nur noch einen Tag zu leben. Das hast du gestern auch gesagt. Willst du mir erzählen, sagte er, es sei nicht schon schlimm genug und ich hätte obendrein auch noch Gedächtnisschwund?
    Es dauerte nicht lange, bis ich darauf verzichtete, in meinem Zimmer in der Little Clarendon Street zu übernachten, und fast die ganze Zeit in London verbrachte. Man könnte sagen, ich sei von dort zu Joav geflohen, in seine Welt, in deren Mittelpunkt das Haus in Belsize Park stand. Joav muss von Anfang an eine Verzweiflung in mir gespürt haben, eine Bereitschaft, mich seiner Intensität anzupassen, alles andere beiseitezuschieben, um mich ganz in die einzige ihm zugängliche Sorte von Beziehung zu stürzen, eine Art Geheimbund, der keinen Platz für irgendjemand anderen ließ, oder jedenfalls für niemanden außer seiner Schwester, die er als Teil seiner selbst empfand.
    Meine psychische Verfassung wurde schlagartig besser. Besser, aber es war nicht das gleiche Selbstgefühl wie vorher: Eine Restangst blieb bestehen, besonders eine Angst vor mir selbst und vor dem, was die ganze Zeit ohne mein Wissen in mir gelauert hatte. Ich fühlte mich eher wie betäubt, nicht geheilt von dem, was immer an mir genagt haben mochte. Es war nichts mehr, wie es einmal gewesen war, und obwohl ich nicht mehr fürchtete, irgendwann in der Klapsmühle zu landen, obwohl ich mich beim Gedanken an mein jämmerliches Verhalten in der schlimmsten Phase beinahe meiner selbst schämte, merkte ich, dass etwas in mir dauerhaft verändert, vertrocknet oder gar gestört war. Eine gewisse Souveränität und Eigenständigkeit war mir verlorengegangen, oder vielleicht sollte ich besser sagen, dass die Idee eines stabilen und bei mir sowieso nicht sonderlich ausgeprägten Selbst wie ein billiges Spielzeug zerbrochen war. Vielleicht ist es mir deswegen so leichtgefallen, mir – nicht sofort, aber im Lauf der Zeit – vorzustellen, ich sei fast ihresgleichen.
     
    Am Anfang war es anders gewesen. Das ganze Leben, das sich in dem Haus in Belsize Park abspielte, erschien mir so fremd, dass ich es nicht fassen konnte. Auch die banalsten Dinge – Leahs Schrank voller teurer Kleider, die sie nie trug, Bogna mit ihrem Hinkebein, die zweimal in der Woche putzte, die Gewohnheit der Geschwister, ihre Mäntel oder Tüten, wenn sie zur Haustür hereinkamen, einfach auf den Boden fallen zu lassen –, ich fand alles exotisch und faszinierend. Ich beobachtete die beiden und versuchte zu begreifen, wie die Dinge funktionierten. Mir war klar, dass ein Spiel persönlicher Regeln und Formalitäten den Lauf der Dinge beherrschte, aber ich fand nicht heraus, worin sie bestanden. Ich wusste genug, um nicht zu fragen; ich war ein absolut höflicher und dankbarer Gast. Meine Mutter hatte mir gewisse Manieren eingebläut. An erster Stelle, sich selbst und die eigenen Neigungen stets zurückzunehmen, wenn es um andere, hochgeschätzte Personen ging.
    Wie die Kinder eines Schiffskapitäns ein instinktives Wissen um das Meer haben, besaßen Joav und Leah einen natürlichen Sinn für die Möbel, ihre Herkunft, ihr Alter, ihren Wert und eine Antenne für ihre besondere Schönheit. Nicht dass sie diese Gabe großartig zur Geltung brachten oder überzeugt gewesen wären, solche Möbel seien mit äußerster Sorgfalt zu behandeln. Sie nahmen einfach nur Notiz davon, mit Bemerkungen, wie man sie bei einem schönen Ausblick machen würde, und gingen, egal was sie gerade taten, weiter ihren Beschäftigungen nach, ganz

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