Das große Haus (German Edition)
– diese Selbstporträts, bei denen man immer versucht, sich ein bisschen besser ins Licht zu setzen, ein bisschen unergründlicher zu erscheinen, als man, wie man tief drinnen weiß, ist. Doch obwohl sich meine Erfahrungen auf drei oder vier Beziehungen beschränkten, hatte ich gemerkt, dass der Kitzel, einander die eigene Geschichte zu erzählen, bald abstumpfte, man sich jedes Mal etwas weniger dabei verausgabte, etwas misstrauischer wurde gegen eine Intimität, die am Ende immer am wirklichen Verstehen vorbeiging.
Aber mit Joav war es anders. Er stützte sich auf einen Arm und starrte mich an, während ich sprach, streichelte geistesabwesend meinen Arm oder mein Bein und unterbrach mich mit Fragen – Wer ist das, du hast sie noch nie erwähnt? Okay, mach weiter, was war dann? – Er erinnerte sich an jede Kleinigkeit, und er wollte nicht nur das Tollste hören, sondern alles, duldete es nicht, wenn ich versuchte, Teile zu überspringen. Er schnalzte mit der Zunge, und sein Gesicht umwölkte sich vor Ärger, sobald ich auf irgendeine Grausamkeit oder irgendeinen Verrat zu sprechen kam, und grinste vor Stolz, wenn ich einen Triumph beschrieb. Manchmal lösten die Dinge, die ich erzählte, ein stilles, fast weiches Lächeln bei ihm aus. Er gab mir das Gefühl, meine ganze Lebensgeschichte sei nur für ihn als Zuhörer gelebt worden. Und er behandelte meinen Körper mit der gleichen Aufmerksamkeit, dem gleichen Staunen. Wenn er mich berührte oder küsste, war er so ernsthaft dabei – beobachtete mein Gesicht, um meine Reaktion einzuschätzen –, dass ich lachen musste. Einmal nahm er aus Spaß ein Notizbuch und schrieb, laut mitsprechend, nach jeder Liebkosung etwas auf: Am Ohrläppchen saugen … Semikolon … bringt sie … zum Japsen. Dann küsste und streichelte er mich wieder, ehe er erneut zum Notizbuch griff: Die rechte … Brustwarze lecken … Komma … während … die Hand über … ihre schöne Po … backe streift … Semikolon … ein fernes … Lächeln … breitet sich … über ihr Gesicht. Neue Pause. Dann: Wenn ich ihre Zehen … in meinen Mund stecke … Komma … stehen ihr die Haare … auf den Armen zu … Berge … Komma … und sie presst … ihre wundervollen … Schenkel zusammen … Addendum … Semikolon … beim zweiten Mal … fängt sie an … zu kreischen … Ausrufezeichen. Aber der Spaß ging noch weiter. Eines Tages kam ich in die Bibliothek und fand das Notizbuch zwischen meinen Büchern – jede Seite mit Joavs winziger Handschrift bedeckt.
Dank seiner Zuwendung fühlte ich mich so abgeklärt, so aufgeweckt und hellsichtig, so gerührt, dass ich es, zumindest am Anfang, akzeptierte, ihm rückhaltlos alles von mir zu erzählen, während es auf seiner Seite Dinge gab, die seine Familie betrafen, über die er offenbar nicht mit mir sprechen konnte. Er sagte es nicht so direkt, sondern brachte es immer irgendwie fertig, Antworten zu vermeiden.
Ich versuchte ihn zu begreifen. Ich erkundete die Muttermale an seinem Körper, die glänzende Narbe, die wie eine Eisenbahnlinie oberhalb seiner linken Brustwarze verlief, den verwachsenen Nagel an seinem rechten Daumen, den goldenen Flausch in der Kuhle über dem Steiß. Die erstaunlich dünnen Handgelenke, den Geruch seines Nackens. Die Silberfüllungen in seinem Mund, die hauchdünnen Kapillaren am oberen Ohrenrand. Ich liebte seine Art, nur mit einer Hälfte des Mundes zu sprechen, als würde die andere dem Gesagten steif und fest ihre Zustimmung verweigern. Und ich empfand eine allerliebste Schwäche für seine Handhabung des Löffels, wenn er Müsli aß und dabei die Zeitung las, fast derb, im Gegensatz zu jener Feinheit, mit der er alles andere tat. Beim Lesen wickelte er sich immer eine Haarlocke um den Finger. Er hatte einen erhöhten Grundumsatz. Um Kopfschmerzen zu vermeiden, musste er oft etwas essen. Deswegen – und weil, nachdem seine Mutter gestorben war, nur noch auf den Tisch kam, was die Haushälterin kochte und was nicht das Gleiche war – hatte er schon in frühen Jahren gelernt, sich sein eigenes Essen zu kochen.
Im Schlaf verströmte er eine Hitze, die mich erschreckte, bis ich mich daran gewöhnt hatte und mich sogar davon angezogen fühlte. Ich hatte einmal gelesen, dass sich Kinder, die ihre Mutter verloren hatten, stundenlang an einen Heizkörper kuschelten, und eines Abends beim Einschlafen erschien mir ein Bild von diesen Kindern, die sich an Joav kuschelten. Mag sein, dass
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