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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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erste Mal auszog und vornüberbeugte, wurde ich ganz starr und steif, nicht wegen der Stellung, die mir vollkommen behagte, sondern weil ich über einen Schreibtisch mit Perlmuttintarsien gebeugt war. Aber so nachlässig sie die Sachen auch behandelten, schienen sie doch nie einen Flecken oder eine Spur zu hinterlassen. Zuerst hielt ich das für die Grazie derer, die mit solchem Mobiliar als ihrem natürlichen Lebensraum groß geworden waren, aber nachdem ich Joav und Leah besser kannte, kam mir ihre Gabe, wenn man es so nennen kann, eher gespenstisch vor.
     
    Das Haus gab seine Geheimnisse leichter preis, und ich kannte mich bald gut darin aus. Insgesamt gab es vier Stockwerke. Leah wohnte ganz oben. Sie schlief in einem Himmelbett im hinteren Zimmer, während im vorderen, unter einem Dachfenster aus buntem Glas, ihr Steinway-Flügel stand; um eine bestimmte Zeit in den Nachmittagsstunden nahmen die Elfenbeintasten farbige Streifen an. Bevor ich Leah kennenlernte, hatte mich der Gedanke erschreckt, welchen Platz sie in Joavs Leben einnahm. Im Gespräch bezog er sich oft auf sie, manchmal als meine Schwester und manchmal einfach als sie , aber meistens sprach er kollektiv von ihnen beiden. Sobald ihr Klavierspiel verstummte, war ich mir sicher, von irgendwo im Haus beobachtet zu werden, und mir sträubten sich die Haare. Aber als ich Leah schließlich das erste Mal sah, war ich überrascht, wie schmächtig und bescheiden sie wirkte, als wäre ihr ganzes Dasein für das Innenleben reserviert. Es schien, als würde sie durch einen großen inneren Druck zusammengehalten. Sie verfügte über ein zweites Klavier, einen Stutzflügel, in einem Übungsraum im Erdgeschoss. Notenblätter stapelten sich überall. Die Partituren wanderten durchs ganze Haus, tauchten in der Küche und in den Toiletten auf. Leah verbrachte eine oder zwei Wochen damit, ein neues Stück einzuüben, teilte es in immer kleinere Abschnitte, die sie mechanisch spielte, mit abwesendem Gesichtsausdruck. Dabei trug sie einen alten Baumwollkimono und zog sich selten richtig an. Sie verfiel in eine Art Schlampigkeit, ließ die Tastatur verschmieren, sogar unter ihren Fingernägeln sammelte sich Dreck. Bis der Tag kam, an dem sie das ganze Stück geschluckt, verdaut und sich zu eigen gemacht hatte – dann rannte sie herum, machte alles sauber, wusch sich die Haare und setzte sich hin, um es in einem Zug auswendig zu spielen. Sie spielte es tausendmal und jedes Mal anders, sehr schnell oder betont langsam, und mit jedem Ton näherte sie sich einer Art ungewissen Klarheit. Alles an ihr war zart und komprimiert, doch wenn sie ihre Hände auf die Tasten legte, brodelte etwas Gewaltiges in ihr. Jahre später, nachdem ich Leahs Brief bekommen hatte und zu Joav in das Haus in der Ha’Oren-Straße umgesiedelt war, fand ich ihren Flügel in einem riesigen gewölbten Raum, wo er an zusammengebastelten Seilen und Flaschenzügen statt eines Kronleuchters von der Decke herabhing. Es lag eine schreckliche Gewalt darin. Er schien ein klein wenig zu schwingen, obwohl sich an jenem drückend heißen Tag kein Lüftchen regte. Leah hätte eine Leiter gebraucht, um daran zu spielen. Es war ein Rätsel, wie sie es geschafft hatte, den Flügel in diese luftige Höhe zu hieven. Joav behauptete später, er habe ihr nicht geholfen; er sei eines Tages aus dem Haus gegangen und bei seiner Rückkehr habe der Flügel dort gehangen. Als ich fragte, warum Leah so etwas getan haben mochte, gab er eine dunkle Antwort über die Reinheit eines in der Luft angeschlagenen Tons, dessen Klang den Bruchteil einer Sekunde unbeeinflusst bleibe. Aber soweit ich wusste, hatte Leah nach dem Selbstmord ihres Vaters ganz aufgehört zu spielen. Egal wo ich mich in dem Haus aufhielt, auch am anderen Ende, war mir der so schaurig dahängende Flügel immer im Bewusstsein, manchmal verloren, manchmal bedrohlich, und ich hatte das Gefühl, wenn er am Ende fiele – es war nur eine Frage der Zeit, bis die Seile nachgaben –, würde er das ganze Haus mitreißen.
    Joavs Schlafzimmer in Belsize Park lag direkt unter Leahs. Die spärliche Einrichtung dieser beiden von ihnen bewohnten Stockwerke blieb im Allgemeinen erhalten, weil es entweder zu mühsam war, die Sachen dauernd treppauf, treppab zu tragen, oder weil die Geschwister es als Erleichterung empfanden, einen Ort zu haben, wo sie hausen und sich wenigstens in dieser Hinsicht dem Einfluss ihres Vaters entziehen konnten. In Joavs Zimmer gab es eine große

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