Das große Haus (German Edition)
oft ich auf meinen rastlosen kleinen Wanderungen durch das Tal des Todes dem Kind, das du einmal warst, begegnet bin. Zuerst hat es mich selbst überrascht, aber bald habe ich mich auf diese unverhofften Begegnungen gefreut. Ich versuchte zu begreifen, warum ausgerechnet du dort auftauchtest, obwohl die Sache doch so wenig mit dir zu tun hatte. Mir wurde bewusst, dass es mit bestimmten Gefühlen zusammenhing, die ich zum ersten Mal empfunden habe, als du ein kleines Kind warst. Ich weiß nicht, warum Uri nicht vor dir schon dieselben Gefühle geweckt hat. Vielleicht war ich in seiner Babyzeit mit anderen Dingen beschäftigt, oder ich war noch zu jung. Es lagen nur drei Jahre zwischen euch, aber in diesen Jahren bin ich erwachsen geworden, meine Jugend war offiziell beendet, und für mich begann ein neuer Lebensabschnitt, als Vater und als Mann. Bei deiner Geburt habe ich auf eine Weise, die mir bei Uri noch nicht möglich war, begriffen, was ein Kind eigentlich bedeutet. Wie es wächst und wie es seine Unschuld allmählich verdirbt, wie sich seine Züge für immer verändern, wenn es das erste Mal Scham empfindet, wie es die Bedeutung von Enttäuschung oder Ekel lernt. Dass es eine ganze Welt in sich birgt und dass ich nur noch verlieren konnte. Ich fühlte mich ohnmächtig dagegen. Und natürlich warst du ein andersgeartetes Kind als Uri. Von Anfang an schienst du Dinge zu wissen und sie mir vorzuwerfen. Als hättest du irgendwie verstanden, dass bei der Erziehung eines Kindes unvermeidlich Gewaltakte inbegriffen sind. Wenn ich vor deiner Wiege stand und herabblickte in dein winziges, von Schmerzensschreien verzerrtes Gesicht – anders kann man es nicht nennen, ich habe nie ein Baby so schreien gehört wie dich –, war ich schon schuldig, bevor ich auch nur angefangen hatte. Ich weiß, wie das jetzt klingt; schließlich warst du ja erst ein Baby. Aber irgendetwas an dir hat meinen schwächsten Punkt getroffen, und ich bin zurückgeschreckt.
Ja, etwas an dir, wie du damals warst, mit deinem lichten Haar, ehe es fest und dunkel wurde. Ich habe andere sagen hören, sie hätten, als ihre Kinder geboren wurden, zum ersten Mal ihre eigene Sterblichkeit geschmeckt. Aber so war es bei mir nicht. Das ist nicht der Grund, warum ich dich dort in den Untiefen meines Todes versteckt finde. Ich war zu sehr mit mir selbst, mit den Kämpfen meines Lebens beschäftigt, um zu merken, wie der kleine Himmelsbote mir die Fackel aus der Hand nahm und sie stillschweigend an dich und Uri weitergab. Um zu merken, dass ich hinfort nicht mehr der Mittelpunkt aller Dinge sein würde, der Schmelztiegel, in dem das Leben, um sich lebendig zu erhalten, am glühendsten brennt. Das Feuer in mir kühlte ab, aber ich habe es nicht gemerkt. Ich habe weiter so gelebt, als würde ich gebraucht, als hätte das Leben mich nötig und nicht umgekehrt.
Und doch hast du mich etwas über den Tod gelehrt. Fast heimlich hast du das Wissen in mich eingeschleust. Irgendwann, es war kurz nachdem du mich gefragt hattest, ob du sterben würdest, hörte ich dich im anderen Zimmer laut reden: Wenn wir sterben, sagtest du, werden wir hungrig sein. Eine einfache Feststellung, dann hast du weiter in schiefen Tönen vor dich hin gesummt und deine Spielzeugautos über den Fußboden geschoben. Aber bei mir ist es hängengeblieben. Niemand, schien mir, hatte den Tod je so zusammengefasst: ein unendlicher Zustand des Verlangens, ohne Hoffnung, es zu stillen. Ich fand es beinahe zum Fürchten, mit welcher Gelassenheit du etwas so Abgründiges ins Auge gefasst hast. Wie du es betrachtet, es so gut du konntest in deinem Kopf gewälzt und eine Form von Klarheit gefunden hast, die dir erlaubte, es zu akzeptieren. Vielleicht schreibe ich den Worten eines Dreijährigen zu viel Bedeutung zu. Aber wie zufällig sie auch sein mochten, sie hatten etwas Schönes: Im Leben sitzen wir am Tisch und wollen nicht essen, und im Tod sind wir ewig hungrig.
Wie soll ich es erklären? Auf welche Weise du mir ein wenig Angst machtest. Wie du dem Wesen der Dinge immer um Haaresbreite näher schienst als wir anderen. Ich kam ins Zimmer und sah dich auf etwas in der Ecke starren. Was ist da so faszinierend?, wollte ich wissen. Sofort war deine Konzentration dahin, und du wandtest dich zu mir um, eine Falte auf der Stirn, ein überraschtes Zucken ob der Störung. Nachdem du das Zimmer verlassen hattest, schaute ich selbst in der Ecke nach. Ein Spinnennetz? Eine Ameise? Ein ekliger Haarball, den
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