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Das große Haus (German Edition)

Das große Haus (German Edition)

Titel: Das große Haus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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abtastete, während in den kleinen, mit der großen Halle und dem Becken verdrahteten Zimmern die Träumenden in ihren Träumen lagen, der kleine Benny und Rebecca, die von ihrem Vater träumte (sag mir, Dovik, hast du mich da als Vorlage genommen? Hast du mich wirklich so gesehen? So herzlos, arrogant und grausam? Oder bin ich genauso egoistisch wie er, wenn ich denke, ich nähme überhaupt einen Platz in deiner Arbeit ein?). Ich entwickelte eine Schwäche für den fiebernden kleinen Benny mit seinem unverwüstlichen Glauben an die Zauberei und ein besonderes Interesse für die Träume Noas, des jungen Schriftstellers, der mich am meisten von allen an dich erinnerte. Ich empfand sogar, weiß der Himmel wie, ein seltsames Mitgefühl mit diesem großen leidenden Hai. Wenn das Bündel Seiten zu Ende ging, war ich immer etwas betrübt. Was würde jetzt passieren? Und was war mit dem entsetzlichen Leck, das Beringer hilflos beobachtet, und dem Geräusch des tropfenden Wassers, pling, pling, pling , das nachts in alle Träume sickert und sie durchdringt und hundert verschiedene Echos der traurigsten Dinge auslöst? Manchmal, wenn du beim Militär besonders eingespannt warst, musste ich Wochen oder gar Monate auf den nächsten Abschnitt warten. Ich blieb im Ungewissen, ohne eine Ahnung davon, wie es weiterging. Nur dass der Hai krank und kränker wurde. Wissend, was Beringer wusste, den Träumenden in ihren fensterlosen Zimmern aber vorenthielt: dass der Hai nicht ewig leben würde. Und was dann, Dovik? Wo würden sie hingehen, diese Leute? Wie würden sie leben? Oder waren sie schon tot?
    Ich habe es nie erfahren. Die letzte Sendung kam drei Wochen bevor du auf den Sinai geschickt wurdest. Danach nichts mehr.
     
    An jenem Samstag im Oktober waren deine Mutter und ich zu Hause, als wir die Luftsirenen hörten. Wir drehten das Radio an, aber weil Jom Kippur war, herrschte Funkstille. Eine halbe Stunde lang knisterte es in der Ecke, bis schließlich eine Stimme ertönte und sagte, die Sirenen seien kein blinder Alarm gewesen; wenn sie noch einmal ertönten, sollten wir uns in die Luftschutzkeller begeben. Dann spielten sie Beethovens Mondscheinsonate – wozu? Zur Beruhigung? –, und irgendwann kehrte der Ansager mit der Meldung zurück, wir seien angegriffen worden. Es war ein furchtbarer Schock: Wir hatten uns eingeredet, mit den Kriegen sei es vorbei. Dann wieder Beethoven, unterbrochen von verschlüsselten Botschaften zur Mobilmachung der Reservisten. Uri rief aus Tel Aviv an, lautstark wie für taube Ohren redend; durchs halbe Zimmer konnte ich verstehen, was er zu deiner Mutter sagte. Er machte Witze; am liebsten hätte er den Ägyptern eine Zaubervorstellung geboten. Das war Uri. Etwas später riefen sie von der Armee an, um nach dir zu fragen. Wir dachten, du wärst bei deiner Einheit im Hermongebirge, aber sie sagten uns, du hättest übers Wochenende Urlaub genommen. Ich schrieb den Ort auf, wo du dich binnen Stunden melden solltest.
    Wir riefen überall an, aber niemand wusste, wo du warst, nicht einmal deine Freundin an der Universität. Deine Mutter steigerte sich in Panik, bis sie nur noch ein Wrack war. Stürz dich nicht in falsche Schlüsse, sagte ich zu ihr. Ich, der seit Jahren von deiner nächtlichen Streunerei wusste, der vertraut war mit deiner Art, dich dem Rest der Menschheit zu entziehen, dir Möglichkeiten zu verschaffen, ein bisschen in einer ungestörten Welt zu leben, abseits des Getümmels. Ich freute mich, etwas über dich zu wissen, was deine Mutter nicht wusste.
    Dann hörten wir die Schlüsselgeräusche an der Tür, und du kamst hereingestürmt, erregt und aufgewühlt. Wir fragten nicht, wo du gewesen seist, und du hast es uns auch nicht gesagt. Ich hatte dich seit einer Weile nicht gesehen und war erstaunt, wie robust du geworden warst, fast physisch imposant. Die Sonne hatte dich gebräunt und dir eine neue Festigkeit gegeben, oder vielleicht etwas anderes, einen Tatendrang, den ich von dir nicht kannte. Als ich dich sah, versetzte es mir einen Stich des Bedauerns um meine eigene verlorene Jugend. Deine Mutter fuhrwerkte nervös in der Küche herum und bereitete das Essen vor. Iss, drängte sie dich, du weißt nicht, wann du das nächste Mal etwas bekommst. Aber du wolltest nicht essen. Du standest nur am Fenster und suchtest den Himmel nach Flugzeugen ab.
    Ich fuhr dich zu dem Treffpunkt. Erinnerst du dich an diese Autofahrt, Dov? Danach gab es Dinge, an die du dich nicht erinnern

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