Das große Haus (German Edition)
sein Gesicht – kann ein Hai Gesichtsausdrücke haben?, fragte ich mich –, während die Patienten in kleinen fensterlosen Zimmern schliefen und träumten.
Ich brauche dir nicht zu erzählen, dass ich nie ein großer Leser war. Es war immer deine Mutter, die Bücher liebte. Ich brauche lange, muss mich langsam von einer Seite zur anderen arbeiten. Manchmal sind mir die Worte ein Rätsel, und ich muss sie zwei- oder dreimal lesen, bis ich die Nuss geknackt habe. In meinem Jurastudium musste ich immer mehr büffeln als die anderen. Mein Geist war scharf, meine Zunge noch schärfer, ich lieferte mir Wortgefechte mit den Besten, aber Bücher machten mir zu schaffen. Als du so leicht lesen lerntest, fast von allein, konnte ich nur staunen. Es schien unmöglich, dass ein Kind wie du von mir stammen sollte. Zugleich war das wieder so ein müheloses Verständnis, das du mit deiner Mutter teiltest, während ich außen vor blieb und nie hereingelassen wurde. Trotzdem, ohne dein Wissen oder deine Zustimmung las ich dein Buch. Las es, wie ich noch kein Buch gelesen hatte und kein anderes lesen würde. Zum ersten Mal erhielt ich Zugang zu dir. Und ich war voller Ehrfurcht, Dovik. Ich war erschreckt und überwältigt von dem, was ich da fand. Als dein Militärdienst anfing und du zur Grundausbildung eingezogen wurdest, war ich verzweifelt bei der Vorstellung, mein heimliches Lesen würde nun ein Ende nehmen, die Türen zu deiner Welt würden mir wieder verschlossen sein. Und dann, siehe da, kamen alle paar Wochen diese Päckchen von dir an, mit braunem Klebeband umwickelt, dazu die prangenden Worte PERSÖNLICH!!! NICHT ÖFFNEN! sowie ausdrückliche Bitten an deine Mutter, sie in deine Schreibtischschublade zu legen. Ich war glücklich. Ich redete mir ein, du wüsstest es, du hättest es die ganze Zeit gewusst, und der Zirkus dieser Geheimnistuerei sei einfach ein Weg, mir – uns beiden – die Verlegenheit zu ersparen.
Am Anfang las ich die Sachen immer in deinem Zimmer. Und nur, wenn deine Mutter aus dem Haus war, wenn sie einkaufen ging, bei der Zionistischen Frauenorganisation half oder Irit besuchte. Mit der Zeit wurde ich dreister, setzte mich in die Küche oder machte es mir auf einem Gartenstuhl unter der Akazie bequem. Einmal kam sie früher als erwartet nach Hause und überraschte mich. Da ich keinen Verdacht erregen wollte, las ich weiter und tat so, als handelte es sich um einen Schriftsatz zu einem meiner Fälle. Ein Vermieter, der zwangsräumen lassen will, brummte ich und blickte kurz über den Brillenrand zu ihr auf. Aber sie nickte nur mit jenem halben Lächeln, das sie aufzusetzen pflegte, wenn sie in andere Gedanken vertieft war – an Irit vielleicht, an deren pathologische Bedürfnisse, deren aufgeregte Notfälle, auf die deine Mutter regelmäßig wie ein Rettungswagen reagierte. So einfach ist das, dachte ich, aber da ich mein Glück nicht aufs Spiel setzen wollte, schlich ich bei der nächsten Gelegenheit in dein Zimmer und legte die Seiten in deinen Schreibtisch.
Ich verstand nicht immer, was du geschrieben hattest. Zugegeben, am Anfang war ich frustriert über deine Weigerung, die Dinge vollständig zu erklären. Was frisst er, dieser Hai? Wo befindet sich dieser Ort, diese Einrichtung, dieses – in Ermangelung eines besseren Wortes – Krankenhaus mit dem riesigen Becken? Warum schlafen diese Leute so viel? Brauchen sie auch nicht zu essen? Isst denn niemand in diesem Buch? Ich musste mich schon arg am Riemen reißen, um keine Bemerkungen an den Rand zu schreiben. Oft hast du mich abgehängt. Ich war gerade dabei, mich in Beringers Zimmer einzufinden, in dem Hausmeisterquartier mit dem winzigen Fenster hoch oben (warum eigentlich regnete es draußen immerfort?) und den Schuhen, die wie Soldaten in Reih und Glied unter seinem harten kleinen Lager standen, drauf und dran, ein Gefühl für diesen Raum zu entwickeln, zu riechen, welchen Geruch ein Mann von sich gibt, wenn er allein in einem kleinen Zimmer schläft, und plötzlich warfst du mich raus, um mich durch den Wald zu schleifen, in dem Hannah sich als kleines Mädchen immer vor allen versteckt hatte. Aber ich tat mein Bestes, mir meine Einwände zu verkneifen. Ich stellte keine Fragen und sah von Korrekturvorschlägen ab. Ich gab mich in deine Hände. Und je mehr ich las, desto seltener regte sich Widerspruch in mir. Ich ließ mich auf deine Geschichte ein, ließ sie mich packen und mitnehmen – zu dem armen Beringer, der den Riss im Becken
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