Das große Haus (German Edition)
konntest, darum bin ich mir nicht sicher, ob du es noch weißt. Deine Mutter kam nicht mit. Sie brachte es nicht über sich. Womöglich wollte sie dich auch nicht mit ihrer Angst anstecken. Das Gewehr lag auf deinen Knien, samt der Tüte mit ihren Esspaketen. Wir wussten beide, dass du sie wegwerfen oder verschenken würdest, sogar deine Mutter wusste es. Sobald wir auf der Straße waren, wandtest du den Kopf zum Fenster und gabst deutlich zu verstehen, dass du nicht in Gesprächslaune warst. Also gut, dann reden wir eben nicht, dachte ich mir, was ist neu daran? Und doch war ich enttäuscht. Irgendwie dachte ich, die Umstände, die alarmierende Notlage, die sich um uns her zusammenbraute, die Tatsache, dass ich dich einem Krieg auslieferte – ich dachte, dieser ganze Druck würde den Pfropfen bezwingen und irgendetwas von dir herauströpfeln lassen. Aber es sollte nicht sein. Du hast deine Haltung klargemacht, dich scharf abgewandt und aus dem Fenster gestarrt. Ehrlich gesagt, war ich trotz meiner Enttäuschung auch ein bisschen erleichtert. Denn ich, der ich immer etwas zu sagen hatte, aufsprang, um das erste Wort zu haben, und am Ball blieb, bis ich auch das letzte hatte – ich war ratlos. Ich sah, wie dein Körper mit dem Gewehr zusammengewachsen war. Wie beiläufig du es hieltest, wie vertraut es dir in den Händen lag. Als wäre dir alles, was sich damit verbindet – seine Anforderungen an dich, seine Macht und seine Widersprüche –, in Fleisch und Blut übergegangen. Der Junge, dem seine eigenen Arme und Beine einmal fremd gewesen waren, hatte aufgehört zu sein, und an seiner Stelle saß, mit dunkler Sonnenbrille und aufgekrempelten Ärmeln, die braune Unterarme blicken ließen, ein Mann neben mir. Ein Soldat, Dova’leh. Mein Junge war zu einem Soldaten herangewachsen, und ich brachte ihn in den Krieg.
Ja, es gab Dinge, die ich sagen wollte, aber in dem Moment nicht konnte, also fuhren wir schweigend. Ein großer Konvoi von Lastwagen war schon dort, die Soldaten voller Ungeduld und rastlos. Wir verabschiedeten uns – so einfach war das, ein hastiges gegenseitiges Auf-den-Rücken-Klopfen –, dann schaute ich dir nach und sah dich in das Meer von Uniformen eintauchen. In diesem Moment warst du nicht mehr mein Sohn. Mein Sohn war fortgegangen, er hatte sich für eine Weile irgendwo versteckt. Wo immer du gewesen sein magst, bevor du nach Hause kamst – auf einsamer Wanderung durch die Berge –, es war, als hättest du gewusst, was kommen würde, als wärst du fortgegangen, um dich in einem Loch zu vergraben. Dich dort, unter der kalten Erde, so lange zu verstecken, bis die Gefahr vorüber war. Und was übrig blieb, nachdem du dich von der Gleichung abgezogen hattest, war ein Soldat, der mit den Früchten Israels groß geworden war, mit der Erde seiner Vorfahren unter den Fingernägeln, und jetzt in den Krieg zog, um sein Land zu verteidigen.
In jenen Wochen hat deine Mutter kaum geschlafen. Sie führte keine Telefongespräche, damit die Leitung nicht besetzt war. Aber am meisten fürchteten wir die Türglocke. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, klingelten sie bei den Biletskis, um zu sagen, dass Itzhak, der kleine Itzy, mit dem ihr beide, du und Uri, als Kinder gespielt habt, auf den Golanhöhen getötet worden sei. Er war in einem Panzer verbrannt. Danach verschwanden die Biletskis in ihrem Haus. Ringsum wucherte das Gras, die Vorhänge blieben immer geschlossen, nur manchmal, sehr spätabends, ging innen ein Licht an, und man hörte jemanden zwei Töne auf dem Klavier spielen, immer dieselben, ding dong ding dong ding dong . Eines Tages, als ich drüben einen Brief abgeben wollte, der versehentlich zu uns gekommen war, sah ich einen hellen Flecken am Türrahmen, wo die Mesusa gewesen war. Das hätten ebenso gut wir sein können. Es gab keinen Grund, warum es ihrem Sohn passiert war und nicht unserem, warum Biletski zwei Töne spielte und nicht ich. Jeden Tag wurden Söhne geopfert. Ein anderer Junge aus der Nachbarschaft wurde von einer Granate zerfetzt. Eines Abends gingen wir zu Bett und schalteten das Licht aus. Wenn ich einen von ihnen verliere, sagte deine Mutter mit leiser, zitternder Stimme zu mir, kann ich nicht mehr weitermachen. Entweder konnte ich sagen: Du wirst weitermachen , oder ich konnte sagen: Wir werden sie nicht verlieren. Wir werden sie nicht verlieren, sagte ich, indem ich ihre dünnen Handgelenke festhielt. Sie sagte nicht: Ich würde dir nicht verzeihen , aber das
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