Das große Haus (German Edition)
anderen draußen waren, startete den Panzer in umgekehrter Richtung und fuhr durch den Sand davon. Vielleicht war er in Panik, wer weiß; du hast ihn nie wiedergesehen.
Du bliebst allein mit dem verwundeten Kommandanten in den Dünen zurück. Wie oft habe ich versucht, es mir vorzustellen, wie wenn ich du gewesen wäre. Nichts als endlose Dünen und Drähte von ägyptischen Raketen am Boden. Das Geräusch von Explosionen. Die Versuche, den Verwundeten auf deinem Rücken mitzuschleppen, ohne die geringste Möglichkeit, in dem Sand vom Fleck zu kommen. Der unter Schock dich anflehende Kommandant, ihn nicht im Stich zu lassen. Wenn du mit ihm dort bliebst, war das euer beider Tod. Wenn du Hilfe suchen gingst, war es womöglich seiner. Du hattest gelernt, einen auf dem Schlachtfeld verwundeten Kameraden nie im Stich zu lassen. Diese Kardinalregel hatte man dir beim Militär eingeschärft. Wie musst du mit dir selbst gerungen haben. Nur dass kein Selbst mehr da war, mit dem du ringen konntest. Der ungläubige Ausdruck in seinem Gesicht, als er verstand, du würdest gehen. Wie er mühsam seine Uhr abmachte und sie dir hinhielt: Sie gehört meinem Vater. Überrascht es dich, dass ich es mir vorgestellt habe, dass ich wirklich mit allen Fasern versucht habe, mich in dich hineinzuversetzen? In dir war niemand mehr, und so gingst du ohne den Kommandanten wie ein wandelnder Toter davon. Du gingst und gingst. Durch die Wüste, durch die Hitze, mit den Explosionen in einiger Entfernung und den Raketen über dem Kopf. Immer schwindliger, das Bewusstsein verlierend, in der Hoffnung, dass es die richtige Richtung war. Bis schließlich, gleich einer Fata Morgana, eine Rettungseinheit auftauchte und du hochgehoben, zu den Toten und den kaum noch Lebenden gelegt wurdest. Der Lastwagen sei voller Verwundeter und Sterbender, darum könnten sie den Kommandanten jetzt nicht suchen, sagten sie dir, sie müssten später noch einmal zurückkehren. Entweder haben sie es getan und ihn nicht gefunden, oder sie sind nie zurückgekehrt. Man hat nichts mehr von ihm gehört, und er wurde als vermisst registriert. Auch nach dem Krieg wurde keine Spur von seiner Leiche gefunden.
Die Uhr lag tagelang auf deinem Schreibtisch. Als du endlich die Adresse der Familie in Haifa bekamst, hast du dir das Auto geliehen und bist selbst hingefahren. Ich weiß nicht, was dort geschehen ist. Als du abends wiederkamst, gingst du in dein Zimmer und hast wortlos die Tür hinter dir geschlossen. Deine Mutter biss sich auf die Lippen und hielt Tränen zurück, während sie die Teller spülte. Ich weiß nur, dass der Kommandant noch ein Kind war und dass du seinen Eltern die Uhr bringen wolltest. Wir dachten, damit wäre die Sache beendet. In den folgenden Wochen hast du dich ein wenig erholt. Uri besuchte dich alle paar Tage, und ihr gingt miteinander spazieren. Doch nach ungefähr drei Wochen kam ein Brief vom Vater des toten Soldaten. Ich entdeckte ihn in einem Stapel Post und legte ihn für dich beiseite. Ich schaute kaum auf den Absender, vollkommen ahnungslos, was der Brief enthielt, aber ich war derjenige, der ihn dir aushändigte, und am Ende war ich es, der in alle die darin enthaltenen Vorwürfe verstrickt wurde. Ein Vater, der an einen Sohn schrieb, nur war er nicht dein Vater, und du warst nicht sein Sohn – trotzdem wurde ich durch einen Strudel von Assoziationen, gegen die ich machtlos war, tief hineingezogen.
Es war kein wortgewandter Brief, aber seine Grobheit machte ihn noch schlimmer. Der Schreibende gab dir die Schuld am Tod seines Sohnes. Sie haben seine Uhr genommen , schrieb er in spindeliger Handschrift, und meinen Sohn sterben lassen. Wie können Sie noch mit sich leben? Er selbst hatte Birkenau überlebt und brachte das ins Spiel. Er beschwor den Mut der jüdischen Häftlinge in den Händen der SS und nannte dich einen Feigling. In der letzten Zeile des Briefs, mit solchem Druck gekritzelt, dass die Feder das Papier durchbrochen hatte, schrieb er: Es hätten Sie sein sollen.
Der Brief zerstörte dich. Was immer du an brüchigem Zusammenhalt hinübergerettet hattest, zerschellte, als du ihn lasest. Mit dem Gesicht zur Wand lagst du im Bett und standest nicht auf und wolltest nicht essen. Du hast niemanden zu dir hereingelassen, dich mit dem Opium des Schweigens betäubt. Vielleicht hast du auch versucht, die kleine noch lebendige Portion von dir verhungern zu lassen. Deine Mutter fürchtete nun auf eine neue Weise um dein Leben. (Wie viele
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