Das große Haus (German Edition)
Weisen gibt es eigentlich, um das Leben seines Kindes zu fürchten? Lass es.) Am Anfang kam deine Freundin dich besuchen, aber du hast sie abgewiesen, und sie ging unter Tränen fort. Sie hatte langes braunes Haar, schiefe Zähne, und sie trug ein Männerhemd, und irgendwie verstärkte das alles ihre Lebhaftigkeit und Schönheit. Du magst denken, ich gäbe mich zu viel mit der Schönheit deiner jungen Freundinnen ab, aber ich will auf etwas Bestimmtes hinaus, dass du nämlich trotz deines ständigen Leidens bis dahin nicht blind für Schönheit gewesen warst, man möchte sogar meinen, du hättest eine gewisse Zuflucht darin gefunden. Aber jetzt nicht mehr; du wolltest von diesem schönen Mädchen, das sich um dich sorgte, nichts mehr wissen. Du sprachst nicht einmal mehr mit deiner Mutter. Wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, ein klein wenig war ich froh, dass ihr dieselbe Behandlung widerfuhr wie mir. Dass sie einmal spürte, was ich mein Leben lang von dir zu spüren bekommen hatte. Dass sie es ein bisschen auf meiner Seite der Barriere aushalten musste und am eigenen Leib erfuhr, wie es sich anfühlte, gegen diese undurchdringliche Wand zu rennen. Aber meine Genugtuung blieb ihr nicht verborgen, und als sie es merkte, versiegte alles, was an Sanftmut über uns gekommen war, nachdem wir erfahren hatten, dass du am Leben warst, was immer der Zweifel uns an stillschweigender Duldung des anderen eingegeben hatte. Unsere Diskussionen über dich – mit leiser Stimme in der Küche oder abends im Bett – luden sich mit Spannung auf. Deine Mutter wollte den Vater in Haifa anrufen, ihn beschimpfen, dich verteidigen. Aber ich ließ sie nicht. Ich packte ihre Hand und entwand ihr den Hörer. Es reicht, Eve, sagte ich. Sein Sohn ist tot. Seine Eltern wurden ermordet, und jetzt hat er seinen einzigen Sohn verloren. Und du erwartest, dass er gerecht sein soll? Dass er vernünftig ist? Ihr Blick wurde hart. Du empfindest mehr für ihn als für deinen eigenen Sohn, sagte sie verächtlich und ging weg.
Danach ließen wir einander fallen, sie und ich. Versagten uns die Unterstützung, die wir gebraucht hätten. Stattdessen zogen wir uns, jeder für sich allein, in die eigenen Qualen zurück, die besondere, einzigartige Hölle, sein Kind leiden zu sehen, ohne ihm irgendwie helfen zu können. Vielleicht hatte deine Mutter in gewisser Weise recht. Nicht, was meine fehlenden Empfindungen für dich anbelangt – du warst mein Kind, Herrgott nochmal, du bist auch heute noch mein Kind. Aber vielleicht recht im Sinne einer fehlenden Großzügigkeit in meinem Umgang mit dir, mit deiner Reaktion auf die Tragödie, die dir zugestoßen war. Du hattest aufgehört zu leben. Deine Mutter glaubte, dir sei etwas geraubt worden. Mir dagegen schienst du es zu verwirken. Als hättest du dein Leben lang darauf gewartet, vom Leben verraten zu werden, dass es dir beweise, was du immer vermutet hast – wie wenig es für dich bereithielt, außer Enttäuschung und Schmerz. Jetzt hattest du einen untadeligen Grund, dich von ihm abzuwenden, endlich mit ihm zu brechen, genau wie du mit Shlomo gebrochen hattest, mit so vielen Freunden und Freundinnen und lange davor mit mir.
Schreckliche Dinge stoßen Menschen zu, aber nicht jeder wird zerstört. Wie kommt es, dass dieselbe Sache den einen zerstört und den anderen nicht? Da beginnt die Frage des Willens – es gibt ein unveräußerliches Recht, das Recht zur Interpretation, das jedem Einzelnen vorbehalten bleibt. Ein anderer hätte vielleicht gesagt: Ich bin nicht der Feind. Ihr Sohn ist von Feindeshand gestorben, nicht von meiner. Ich bin ein Soldat, der für sein Land gekämpft hat, nicht mehr und nicht weniger. Und ein Dritter hätte den quälenden Selbstzweifeln die Tür zugeschlagen. Aber du hast sie aufgelassen. Und ich muss zugeben, das konnte ich nicht verstehen. Als es dir nach zwei oder drei Monaten nicht besserging, verwandelte sich der Schmerz, dich leiden zu sehen, in Missmut. Wie soll man jemandem helfen, der nichts tut, um sich selbst zu helfen? Ab einem bestimmten Punkt kann man nicht mehr anders, als Selbstmitleid darin zu sehen. Du gabst jede Bemühung auf. Manchmal, wenn ich über den Flur ging, hielt ich vor der geschlossenen Tür deines Zimmers inne. Was ist mit dem Hai, mein Sohn? Was ist mit Beringer und seinem Schrubber und dem unaufhörlichen Tropfen aus dem Leck des Beckens? Was ist mit dem Doktor und mit Noa und dem kleinen Benny? Was soll ohne dich aus ihnen werden? Aber dann
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