Das große Haus (German Edition)
brauchte sie auch nicht zu sagen. Uri war auf einem Berg oberhalb des Jordantals stationiert. Er schaffte es, uns einmal anzurufen, so wussten wir, dass er dort war. Viel später, Jahre später, erzählte er mir, wie er über das Funkgerät die verzweifelten Gefechte der israelischen Panzereinheiten auf den Golanhöhen hören konnte. Eine nach der anderen verschwand einfach vom Sender, in Stille ausgelöscht, während Uri lauschte und sich nicht davon losreißen konnte, weil er wusste, es waren die letzten Worte dieser Soldaten. Von Uri haben wir erfahren, dass deine Brigade auf den Sinai geschickt worden war. Jeden Tag rechneten wir mit dem Klingeln an der Tür, aber es klingelte nicht, und jedes Mal, wenn die Morgendämmerung ohne Klingeln anbrach, hattest du eine Nacht mehr überlebt. Es gab vieles, was deine Mutter und ich uns in diesen Tagen nicht sagten. Unsere Ängste zogen uns tiefer und tiefer in ein beklemmendes Schweigen. Ich wusste, wenn dir oder Uri etwas zustieße, würde sie mir nicht das Recht zugestehen, genauso zu leiden wie sie, und das nahm ich ihr übel.
An jenem Abend, zwei Wochen nachdem der Krieg begonnen hatte, klingelte gegen elf das Telefon. Das ist es, dachte ich, und in meinem Inneren tat sich ein gähnendes Loch auf. Deine Mutter war im anderen Zimmer auf dem Sofa eingeschlafen. Übernächtigt, mit trüben Augen und elektrisierten Haaren stand sie jetzt in der Tür. Ich erhob mich, als müsste ich mich durch Beton kämpfen, von meinem Sitz und nahm ab. Mir brannten die Augen und die Lungen. Es entstand eine Pause, lange genug, um mir das Schlimmste vorzustellen. Dann kam deine Stimme durch. Ich bin’s, sagtest du. Das war alles: Ich bin’s. Zwei Silben nur, und doch hörte ich eine leichte Veränderung in deiner Stimme, als wäre ein winziges, aber lebenswichtiges Stückchen darin gebrochen, wie der Leuchtfaden einer Glühbirne. Trotzdem, in diesem Moment war es egal. Mir geht es gut, sagtest du. Ich konnte nicht sprechen. Ich glaube nicht, dass du mich je weinen gehört hattest. Deine Mutter begann zu schreien. Er ist es, sagte ich. Es ist Dov, brachte ich erstickt heraus. Sie eilte zu mir, und wir drückten beide unsere Ohren an den Hörer. Mit gepaarten Köpfen lauschten wir deiner Stimme. Ich wünschte mir nur noch, dich ewig reden zu hören. Über irgendetwas, was auch immer. Dich reden zu hören, wie wir dich morgens in deinem Gitterbettchen so oft brabbeln gehört hatten, bevor du nach uns riefst. Aber du wolltest nicht lange sprechen. Du sagtest uns, du seist in einem Krankenhaus bei Rechovot. Dein Panzer sei getroffen worden, und ein Granatsplitter habe dich an der Brust verletzt. Es ist nicht schlimm, sagtest du. Du fragtest nach Uri. Ich kann jetzt nicht lange sprechen, sagtest du. Wir kommen zu dir, sagte deine Mutter. Nein, sagtest du. Selbstverständlich kommen wir, sagte sie. Ich sagte nein, gabst du schroff, fast ärgerlich zurück. Und dann, wieder milder: Sie bringen mich morgen oder übermorgen nach Hause.
In dieser Nacht hielten deine Mutter und ich uns im Bett fest in den Armen. Eine Atempause lang umschlangen wir uns und verziehen einander alles.
Als du schließlich nach Hause kamst, warst du weder der Soldat, den ich in der Menge hatte verschwinden sehen, noch der Junge, den ich kannte. Du warst wie eine Hülle, die sich der beiden entleert hatte. Du saßest stumm auf einem Sessel in der Ecke des Wohnzimmers, eine unberührte Tasse Tee auf dem Beistelltisch, und zucktest zusammen, wenn ich dich berühren wollte. Wegen deiner Wunde, aber auch, das konnte ich spüren, weil du einen solchen Kontakt nicht ertrugst. Gib ihm Zeit, flüsterte deine Mutter in der Küche, wo sie Pillen, Tees und Tupfer vorbereitete. Ich setzte mich zu dir ins Wohnzimmer. Wir sahen Nachrichten und sprachen wenig. Wenn es keine Nachrichten gab, schauten wir uns Zeichentrickfilme an, Katz-und-Maus-Jagden: Wie viele Zuckerstückchen willst du?, und dann mit dem Hammer auf den Kopf. Mit der Zeit kam heraus – nicht vor meinen Ohren natürlich, nur vor ihren –, dass zwei andere der Panzerbesatzung gestorben waren. Der Schütze, der erst zwanzig war, und der Kommandant, auch er nur ein paar Jahre älter. Der Schütze war auf der Stelle tot, der Kommandant dagegen verlor ein Bein und stürzte sich aus dem Panzer. Du bist hinausgeklettert, um ihm zu helfen. Die Funkanlage war hinüber, überall Rauch und Verwirrung, und der Fahrer, der in dem Chaos womöglich nicht begriffen hatte, dass die
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