Das große Heft
während der Bombenangriffe nicht draußen bleiben.
Er zieht uns am Arm zu einer Tür:
- Geht da rein.
- Wir wollen nicht.
- Es ist ein Luftschutzraum. Dort seid ihr sicher.
Er öffnet die Tür und stößt uns hinein. Der Keller ist voller Leute. Es herrscht völlige Stille. Die Frauen drücken ihre Kinder an sich.
Plötzlich explodieren irgendwo Bomben. Die Explosionen kommen immer näher. Der Mann, der uns in den Keller gebracht hat, wirft sich auf den Kohlenhaufen, der sich in einer Ecke befindet, und versucht sich darin zu vergraben.
Ein paar Frauen lachen verächtlich. Eine ältere Frau sagt:
- Seine Nerven sind zerrüttet. Er hat Urlaub deswegen.
Plötzlich können wir kaum noch atmen. Wir öffnen die Kellertür; eine große dicke Frau stößt uns weg, macht die Tür wieder zu. Sie schreit:
- Seid ihr verrückt? Ihr könnt jetzt nicht raus.
Wir sagen.
- Die Leute sterben immer in den Kellern. Wir wollen raus.
Die dicke Frau stemmt sich gegen die Tür. Sie zeigt uns ihre Zivilschutzbinde am Arm.
- Hier befehle ich! Ihr bleibt da!
Wir schlagen unsere Zähne in ihre fleischigen Unterarme, - wir treten ihr ans Schienbein. Sie stößt Schreie aus, versucht uns zu schlagen. Die Leute lachen. Schließlich sagt sie, ganz rot vor Zorn und Scham:
- Los! Haut ab! Krepiert doch draußen! Es wäre kein großer Verlust.
Draußen holen wir tief Luft. Es ist das erstemal, daß wir Angst hatten.
Es regnet weiter Bomben.
Die Menschenheide
Wir sind ins Pfarrhaus gekommen, um unsere saubere Wäsche zu holen. Wir essen mit der Magd Butterbrote in der Küche. Wir hören Schreie auf der Straße. Wir legen unsere Brote hin und gehen hinaus. Die Leute stehen vor ihren Türen; sie schauen zum Bahnhof. Aufgeregte Kinder kommen schreiend angerannt:
- Sie kommen! Sie kommen!
An der Straßenecke erscheint ein Militärjeep mit fremden Offizieren. Der Jeep fährt langsam, gefolgt von Soldaten, die ihr Gewehr quer über der Brust tragen. Hinter ihnen eine Art Menschenherde. Kinder wie wir. Frauen wie unsere Mutter. Alte Männer wie der Schuster. Es sind zweihundert oder dreihundert, die vorwärtsgehen, eskortiert von Soldaten. Einige Frauen tragen ihre kleinen Kinder auf dem Rücken, auf der Schulter oder an ihre Brust gedrückt. Eine von ihnen fällt hin, - Hände ergreifen das Kind und die Mutter; man trägt sie, denn ein Soldat hat schon sein Gewehr angelegt.
Niemand spricht, niemand weint; die Augen starren auf den Boden. Man hört nur das Geräusch der genagelten Schuhe der Soldaten.
Genau vor uns ragt ein magerer Arm aus der Menge, eine schmutzige Hand streckt sich aus, eine Stimme bittet:
- Brot.
Lächelnd macht die Magd eine Geste, wie um den Rest ihres Butterbrots herzugeben; sie nähert es der ausgestreckten Hand, dann, laut lachend, zieht sie das Stück Brot zurück, zu ihrem Mund, beißt hinein und sagt:
- Auch ich habe Hunger!
Ein Soldat, der alles gesehen hat, gibt der Magd einen Klaps auf den Hintern; er zwickt sie in die Backe, und sie winkt ihm mit ihrem Taschentuch nach, bis wir nur noch eine Staubwolke in der untergehenden Sonne sehen.
Wir gehen ins Haus zurück. Von der Küche aus sehen wir den Herrn Pfarrer vor dem großen Kruzifix in seinem Zimmer knien.
Die Magd sagt:
- Eßt eure Brote auf.
Wir sagen:
- Wir haben keinen Hunger mehr.
Wir gehen in das Zimmer. Der Pfarrer dreht sich um:
- Wollt ihr mit mir beten, Kinder?
- Wir beten nie, das wissen Sie. Wir wollen verstehen.
- Ihr könnt nicht verstehen. Ihr seid zu jung.
- Aber Sie sind nicht zu jung. Deshalb fragen wir Sie: Wer sind diese Leute? Wo bringt man sie hin? Warum?
Der Pfarrer steht auf, kommt auf uns zu. Er sagt, die Augen schließend:
- Die Wege des Herrn sind unerforschlich.
Er öffnet die Augen, legt seine Hände auf unsere Köpfe:
- Bedauerlich, daß ihr ein solches Schauspiel mit ansehen mußtet. Ihr zittert ja an allen Gliedern.
- Sie auch, Herr Pfarrer.
- Ich, ich bin alt, ich zittere.
- Und wir frieren. Wir sind mit nacktem Oberkörper gekommen. Wir werden eines der Hemden anziehen, die Ihre Magd gewaschen hat.
Wir gehen in die Küche. Die Magd gibt uns unser Paket mit sauberer Wäsche. Wir nehmen jeder ein Hemd heraus. Die Magd sagt:
- Ihr seid zu empfindlich. Am besten vergeßt ihr, was ihr gesehen habt.
- Wir vergessen nie etwas.
Sie schiebt uns zum Ausgang:
- Nun beruhigt euch! Das alles hat nichts mit euch zu tun. Euch wird so was nie passieren. Diese Leute sind nichts weiter als
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