Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das große Heft

Das große Heft

Titel: Das große Heft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agota Kristof
Vom Netzwerk:
hoch, sich an der Wand festhaltend. Wir hören ihn noch auf der Straße schreien: 
    - Alle sollen still sein!
    Wir heben die Harmonika auf, wir säubern sie. Jemand sagt:
- Er ist taub.
Ein anderer sagt:
    - Er ist nicht nur taub. Er ist völlig verrückt.
    Ein alter Mann streichelt uns die Haare. Tränen rollen aus seinen tiefliegenden, schwarzumrandeten Augen: 
    - Was für ein Unglück! Was für eine Welt des Unglücks! Ihr armen Kleinen! Arme Welt! 
    Eine Frau sagt:
    - Taub oder verrückt, wenigstens ist er wiedergekommen. Auch du bist wiedergekommen.
    Sie setzt sich auf die Knie des Mannes, dem ein Arm fehlt.
Der Mann sagt:
    - Du hast recht, meine Hübsche, ich bin wiedergekommen. Aber womit soll ich arbeiten? Womit soll ich das Sägebrett halten? Mit dem leeren Ärmel meiner Jacke? 
    Ein anderer junger Mann, der auf einer Bank sitzt, sagt lachend:
    - Auch ich bin wiedergekommen. Bloß bin ich unten gelähmt. Die Beine und alles andere. Ich werde nie mehr einen hochkriegen. Lieber wäre ich gleich draufgegangen, dort geblieben, auf einen Schlag.
    Eine andere Frau sagt:
    - Ihr seid nie zufrieden. Alle, die ich im Lazarett sterben sehe, sagen: »Egal, wie mein Zustand ist, ich möchte überleben, nach Hause zurückkehren, meine Frau sehen, meine Mutter, egal wie, noch ein bißchen leben.« 
    Ein Mann sagt:
    - Du, halt's Maul. Die Frauen haben nichts vom Krieg gesehen.
Die Frau sagt:
    - Nichts gesehen? Schwachkopf! Wir haben die ganze Arbeit, die ganzen Sorgen: die Kinder ernähren, die Verwundeten pflegen. Ihr dagegen seid alle Helden, wenn der Krieg vorbei ist. Tot: Helden. Überlebend: Helden. Verstümmelt: Helden. Deswegen habt ihr den Krieg erfunden, ihr, die Männer. Es ist euer Krieg. Ihr habt ihn gewollt, führt ihn also, Helden, ihr könnt mich mal. Alle beginnen zu reden, zu schreien. Der alte Mann neben uns sagt:
    - Keiner hat diesen Krieg gewollt. Keiner, keiner. Wir steigen aus dem Keller hinauf; wir beschließen, nach Hause zu gehen.
    Der Mond beleuchtet die Straßen und die staubige Landstraße, die zu Großmutter führt.

Die Weiterentwicklung unserer Schauspiele
    Wir lernen mit Früchten jonglieren: Äpfeln, Nüssen, Aprikosen. Zuerst mit zwei, das ist leicht, dann mit drei, vier, bis wir es auf fünf bringen.
    Wir erfinden Zauberkunststücke mit Karten und mit Zigaretten.
    Wir trainieren uns auch in Akrobatik. Wir können radschlagen, den Salto mortale, Purzelbäume vor und zurück und sehr gewandt auf den Händen gehen. Wir ziehen uns sehr alte, zu große Kleider an, die wir im Koffer in der Dachkammer gefunden haben: karierte Jacken, zerrissene, weite Hosen, die wir an der Taille mit Schnur festhalten. Wir haben auch einen runden und harten schwarzen Hut gefunden.
    Einer von uns klebt sich eine rote Pfefferschote auf die Nase, der andere einen falschen Schnurrbart aus Maishaaren. Wir besorgen uns Lippenstift und vergrößern unsern Mund bis zu den Ohren.
    So als Clowns verkleidet gehen wir auf den Marktplatz. Dort gibt es die meisten Geschäfte und die meisten Leute. Wir beginnen unser Schauspiel damit, daß wir viel Lärm mit unserer Harmonika und mit einem ausgehöhlten, in eine Trommel verwandelten Kürbis machen. Wenn genügend Zuschauer um uns herum sind, jonglieren wir mit Tomaten oder sogar mit Eiern. Die Tomaten sind richtige Tomaten, aber die Eier sind ausgeleert und mit feinem Sand gefüllt. Da das die Leute nicht wissen, stoßen sie Schreie aus, lachen und klatschen, wenn wir so tun, als würden wir eines mit knapper Not auffangen. Wir setzen unser Schauspiel mit Zauberkunststücken fort und beenden es mit Akrobatik.
    Während einer von uns radschlägt und den Salto mortale macht, geht der andere auf den Händen um die Zuschauer herum, den alten Hut zwischen den Zähnen. Abends gehen wir unverkleidet in die Kneipen. Bald kennen wir alle Kneipen der Stadt, die Keller, in denen Winzer ihren eigenen Wein verkaufen, die Schenken, in denen man im Stehen trinkt, die Cafes, die die gut gekleideten Leute sowie ein paar Offiziere besuchen, die nach Mädchen Ausschau halten.
    Die Leute, die trinken, geben ihr Geld leicht her. Sie vertrauen sich auch leicht an. Wir erfahren alle möglichen Geheimnisse über alle möglichen Leute.
    Oft spendiert man uns was zu trinken, und allmählich gewöhnen wir uns an den Alkohol. Wir rauchen auch die Zigaretten, die man uns schenkt.
    Überall haben wir viel Erfolg. Man findet, daß wir eine schöne Stimme haben; man applaudiert uns und verlangt

Weitere Kostenlose Bücher