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Das große Leuchten (German Edition)

Das große Leuchten (German Edition)

Titel: Das große Leuchten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Stichmann
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wollte. Frances war zwar Christin, lehnte aber alles ab, was mit Kirchengemeinden zu tun hatte. Robert und ich hatten die Kirche, den Pfarrer und den Friedhof noch nie gesehen, und meine Mutter hatte nie an Gott geglaubt und war offensichtlich auch kein Protestmensch gegen den Tod gewesen.
    Robert war der Einzige, der weinte, er krümmte sich zusammen, während er eine Handvoll Blüten in das Erdloch warf; es schien eher wegen mir zu sein als wegen meiner Mutter. Ich spürte überhaupt keine Tränen. Ich weigerte mich auch, Blüten auf das Urnengrab zu werfen. Zwischendurch hatte ich kurz das Gefühl, mich hinlegen zu müssen, als würden sich meine Muskeln auflösen und ich müsste fallen und für immer so liegen blieben – aber dann sah ich weg und konzentrierte mich wieder auf die Farben und das leise Klackern in der Luft.

    Den Herbst und den Winter über schlief Robert noch ab und zu bei mir im Gästezimmer. Er saß in seinem Nachthemd auf der Matratze auf dem Boden, kaute an seinen viel zu langen Fingernägeln und guckte voller Mitleid zu mir hoch, als wollte er mich dazu verpflichten, permanent unglücklich zu sein und mit ihm reden zu wollen.
    «Es ist ungesund, wenn man nicht darüber redet!»
    «Schneid dir lieber mal deine Fingernägel», sagte ich.
    Es war wirklich ekelhaft, in den letzten Wochen war es wieder schlimmer geworden: Er ließ sie wachsen und kaute sie irgendwann ab, aber meistens waren sie so lang, dass er wie ein seltsamer Harfenspieler aussah. Und mit dem Mondlicht vom Fenster und den Rüschen seines Nachthemds wirkte er kalkweiß und entrückt, als würde er sich jeden Moment in eine böse Märchenfigur mit spiralförmigen Fingernägeln verwandeln.
    Es kam mir überhaupt vor, als würden meine Konzentrationstechniken nur außerhalb des Hauses wirken, während meine Phantasie innerhalb des Hauses gegen mich gerichtet war. Nachts, auf dem Weg zur Toilette, verschwammen die Treppenstufen und Möbel vor meinen Augen, und mir kam die Angst, selber zu verschwimmen und mich nach und nach aufzulösen. Ich bin gar nicht mehr richtig vorhanden, ich bin nur eine Gedankenstimme, dachte ich. Ich bin nur ein Geist.
    Außerdem war alles infiziert von Frances und ihrer altmodischen Strenge. Sie steckte in den dunklen Schränken, in den leeren Vasen, in den unterschiedlich abgewetzten Treppenstufen. Auf dem Sekretär im Saal lag ihre massive Lederbibel, neben dem Kamin hingen die gerahmten Fotos von der Zeit, die sie bei den Mormonen in Amerika verbracht hatte – ovale und eckige Mumifizierungen in Schwarzweiß. In den allerersten Wochen war sie ein winziges bisschen freundlicher gewesen, inzwischen sah sie mich an, als wäre ich hier eingedrungen, als hätte sie mich gegen ihren Willen aufnehmen müssen.
    «Es liegt auch an dir. Du musst mit deinen Gedanken aufpassen, du hast dich verändert», sagte Robert.
    «Schneid deine Fingernägel!», sagte ich.
    Er gehorchte. Er duckte sich und schnitt sich die Fingernägel, so kurz es ging, und als ich ihn dazu aufforderte, schnitt er weiter. Er nahm die Nagelfeile und feilte gründlich und fing an zu bluten, aber er sah immer noch aus wie ein Harfenspieler, deshalb trieb ich ihn weiter an. Es machte mich wütend, dass er so schwächlich dasaß mit seinem Mitleid, seinem Blut, seiner silbernen Kruzifixkette und dem Nagel-Set. Als wollte er, indem er mir gehorchte, an meiner Stelle leiden.

    An dem Tag, an dem wir Ana trafen, befahl ich ihm, mich im Bollerwagen zu ziehen. Es war in den ersten heißen Tagen, er hatte sein T-Shirt zu einem Turban um den Kopf gewickelt; ich saß zwischen unseren Picknicksachen und wies die Richtung mit meinem Stock, während die Pappelsamen wie Schnee um uns wehten. Er redete mal wieder davon, dass er eines Tages das Landhaus erben würde und dann mit mir zusammen ein Hotel darin aufmachen wolle – es sollte eine Art Natur-Hotel werden, in dem sich überarbeitete Stadtmenschen erholen könnten. Ich sagte ihm, dass es das Allerletzte war, was ich mir für meine Zukunft vorstellen konnte, dass ich so bald wie möglich aus dieser Einöde abhauen wollte und dass er das auch tun sollte, wenn er nicht komplett irrewerden wollte.
    Auf einer Lichtung im Wald stellten wir den kleinen Schachtisch auf, den wir mitgenommen hatten. Es war unser Ritual, uns in unseren Klappstühlen gegenüberzusitzen und Chaosschach zu spielen. Im Sommer davor hatten wir es uns zusammen ausgedacht: Das Spiel ging so, dass man eigentlich alles machen durfte, das

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