Das große Leuchten (German Edition)
zahlen, offenbar alles kein Grund zur Freude. Der Brief lag abends auf dem Gartentisch, sie hatten ihn gelesen, aber es gab keinen Kommentar, Frances schickte uns ins Bett. Meine Mutter saß nur da, nicht weniger ernst, aber passiver und in sich zurückgezogen.
Als ich später am Abend noch mal herunterkam, erschrak ich, weil Frances sie doch noch von der Idee zu überzeugen versuchte. Mit ungewohnt eindringlicher Stimme. Die Tage wurden schon etwas kühler, und abends wurde es windig, sodass ich mich hinter dem Vorhang verstecken konnte, den der Wind auf seinem Weg durch den Saal aus der Terrassentür blies. Aber als ich dieses Mal meinen Platz einnahm, bemerkte mich Frances direkt und schickte mich wieder hoch, und ich sah im Umdrehen nur noch dieses kleine, ins Nichts gerichtete Lächeln meiner Mutter, das ich noch weniger verstand als alles andere; ich hatte sie eigentlich noch nie so lächeln sehen.
Am nächsten Morgen kam sie nicht zum Frühstück, ich suchte sie und fand sie im unteren Badezimmer, das wir nie benutzten, weil dort die Wände verschimmelt waren. Ich sah zuerst das rosafarbene Badewasser, dann sie. Nur ihr Kopf und ihr Hals guckten heraus, ihre Augen waren offen. Ich wunderte mich, dass sie nicht blinzelte. Es schien überhaupt kein Blick in ihren Augen zu sein. Sie lag auch ungewöhnlich, ein kleines bisschen auf der Seite, und ein ekliger Geruch ging von der Badewanne aus – aber es stank immer etwas im unteren Bad, wegen den schimmligen Wänden. Ich dachte, sie badet, sie nimmt einfach ein Bad und ist zu entspannt, um mich zu sehen. Ich ging rüber in den Saal und setzte mich vor den Kamin. Ich verstand es erst, als Frances zu mir kam und fragte, was los sei. Genau in dem Moment, in dem sie fragte, kam es mir in den Kopf – warum sie nicht mehr blinzelte und warum das Wasser rosa war, und ich begriff auch, dass sie es auf diese brutale Art gemacht hatte, auf diese viel zu blutige Art, die mir nie in den Sinn gekommen wäre, obwohl ich schon daran gedacht hatte, dass sie so was irgendwann tun könnte.
«Jetzt ist sie tot», sagte ich.
Viel später dachte ich, dass auch die Art ihres Selbstmords nicht richtig zu ihrem Alter passte. Sie war achtundvierzig; zumindest in Filmen waren es immer eher Jugendliche, die sich die Pulsadern aufschlitzten. Ältere Menschen, dachte ich, fällen die Entscheidung überlegter, sie klären vorher alles ab und nehmen Schlaftabletten oder Ähnliches, sodass sie eher angezogen im Sessel sterben, sodass niemand sie nackt in ihrem Blutgeruch finden muss.
2
Die Beerdigung fand auf einem kleinen, hoch ummauerten Friedhof am Stadtrand statt. Weiße Blütenblätter lagen auf dem Urnengrab, ich sah es aus dem Augenwinkel – eigentlich konzentrierte ich mich auf eine junge Frau, die ein paar Gräber weiter versuchte, eine Kerze anzuzünden. Ihr Feuerzeug klickte in den Redepausen des Pfarrers, dann klackerten ihre Absätze, und irgendwo bröckelten Steinchen von einer Mauer – mir fiel auf, dass da überall diese kleinen, selbständigen Geräusche waren, die gar nichts mit der Beerdigung zu tun hatten und trotzdem existierten. Je länger ich zuhörte, desto aufgeregter und ängstlicher wurde ich, aber es hatte überhaupt nichts mit meiner Mutter zu tun, es war wegen den Geräuschen – weil sie mit gar nichts verbunden waren, weil sie als vollkommen freie Phänomene über den Friedhof wehten. Als ich auf die Idee mit dem Nichtblinzeln kam, konnte ich zusätzlich die sichtbaren Dinge, die Grabsteine, Bäume und Blumen, voneinander lösen. Um mich herum entstand ein buntes Chaos, und es sah ganz danach aus, als könnte man es neu und anders zusammensetzen, wenn man sich auf die richtige Weise konzentrierte.
Ich stellte mir vor, dass ich aus mir rausschweben und frei über den Friedhof wehen könnte wie die Geräusche, dass ich in die fremde Frau reinwehen und eine Weile in ihrem Körper verbringen könnte. Sie trug grellrote, unpassend schicke Stöckelschuhe, die eckige Abdrücke in der Erde hinterließen, dazu einen leuchtend roten Regenmantel mit einem großen Gürtel. Nach einer Weile ging sie telefonierend davon, und ich versuchte herauszufinden, mit wem sie telefonierte, wessen Grab es war, das sie besucht hatte, ich versuchte, in ihr drinzubleiben und mit ihr wegzugehen.
«Wir Christenmenschen sind wahre Protestmenschen gegen den Tod!»
Der Pfarrer schien irgendeinen Bogen in seiner Rede zu beenden. Es war vollkommen unklar, wen er damit ansprechen
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