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Das große Leuchten (German Edition)

Das große Leuchten (German Edition)

Titel: Das große Leuchten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Stichmann
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halb im Raps versteckt, offensichtlich splitternackt. Ich setzte sie mir einfach ins Bewusstsein, ohne sie gesehen zu haben, sie war eben schon vorhanden, an verschiedenen Stellen sah ich ihre Hand oder ihr Bein.

    Den Sommer davor hatte ich wie immer als Gast hier verbracht, meine Mutter hatte mich über die Schulferien abgeliefert. Für die letzte Woche kam sie dazu, saß mit Frances am Gartentisch und trank stundenlang Kaffee, während Robert und ich hinten auf der großen Wiese lagen. Er redete davon, dass wir so was wie sehr unterschiedliche Zwillinge seien, ein Stadt- und ein Landkind, die sich aber doch ähnlich seien auf ihre Weise, auch weil unsere Namen so ähnlich klangen: Robert und Rupert, damit müsse es doch etwas auf sich haben. Ich stimmte ihm zu, wir hatten uns wie immer fest angefreundet in den sechs Wochen. Wir waren uns auch einig, dass mit unseren Müttern irgendetwas nicht stimmte. Aus der Ferne betrachtet saßen sie ganz friedlich da, aber wenn wir am Abend näher rückten, ging eine deutliche Kälte von ihnen aus. Sie waren schon immer kühl und verhärtet gewesen, aber jetzt war es schlimmer geworden – es kam mir vor, als würden ihre Gesichter noch knochiger und strenger werden, wie sie da im Schatten saßen. Meine Mutter war unzufrieden mit ihren Putz-Jobs und unserer kleinen Wohnung in der Stadt, sie wollte irgendwas grundlegend verändern, so viel verstand ich – oder so viel schnappte ich auf, abends in der Terrassentür stehend, den merkwürdig leisen Gesprächen lauschend. Wenn sich die beiden unterhielten, kamen immer Fremdwörter darin vor, unverständliche Begriffe, das verwirrte mich: Zwei Menschen unterhalten sich, und man kann einfach nicht ausmachen, worum es geht. Meine Mutter saß da in ihrer typischen Pose: verschränkte Arme und ein Gesichtsausdruck, als würde sie durchgehend frieren.

    «Welche von unseren Müttern ist trockener?»
    «Auf jeden Fall meine», sagte ich.
    Wir argumentierten hin und her, als wenn man etwas gewinnen könnte mit der schlimmeren Mutter – ich fand, dass Frances gesünder aussah, auch wenn sie ein gutes Stück älter war und in einer längst vergangenen Zeit zu leben schien. Ihre weißen Haare trug sie meist als Dutt, links über ihren schmalen Lippen saß eine Warze, die ihr eine strenge Würde verlieh, zusammen mit den immer gleichen grauen Leinenklamotten und der altmodischen Drahtbrille. Wenn sie die Brille absetzte, wirkte ihr Gesicht noch härter, und ihre eisblauen Augen leuchteten richtig darin – vor Bewusstsein oder vor Getrenntsein oder vor Wissen. Meine Mutter und sie hatten sich in einer Wohngemeinschaft kennengelernt, und Frances war irgendwann rausgezogen und zu einer strengen Christin geworden – während meine Mutter in der Stadt geblieben war und sich wahrscheinlich auch sonst viel weniger verändert hatte. Sie saß in löchrigen Flickenjeans da, ihre langen blonden Haare waren noch verfilzter, als ich es von vor den Ferien in Erinnerung hatte, ihre hellblauen Ledersandalen waren mit einem bunten Blumenmuster bedruckt. Alles so, als wäre sie immer noch jung – wodurch sie im Gesicht umso älter und kränklicher wirkte.
    Einmal sah ich heimlich durch die Luke zu, wie sie auf dem Dachboden hin und her schlich und eine Leinwand ansah, die sie im letzten Sommer hier oben bemalt hatte, ohne dass irgendwas dabei rausgekommen wäre. Sie räumte auch ein bisschen herum, sortierte ausrangierte Vasen und andere unnütze Dinge, aber alles unsagbar langsam, als machte es große Mühe, sich zu bewegen. Ich erkannte das Sternschnuppen-Tattoo an ihrem Knöchel, ihr mageres Gesicht, meine Mutter eben. Aber als sie mich ansah, kam es mir vor, als würden wir uns gar nicht kennen, als wäre sie nur irgendeine Tramperin, die ich grade zum ersten Mal sah.
    «Geh wieder runter, spielen», sagte sie.
    Dabei war ich schon fünfzehn.

    Kurz bevor wir abreisen wollten, kam die Idee auf, dass wir hierherziehen könnten. Robert und ich beschlossen, einen Brief an unsere Mütter zu schreiben. Zuerst hatten wir mündlich vorgetragen, dass wir dafür waren, aber unsere Freude über die Vorstellung, jeden Morgen gemeinsam mit dem Bus in die Schule zu fahren, schien vollkommen irrelevant zu sein, wir hatten offenbar mal wieder nicht begriffen, worum es ging. Also schrieben wir: Sehr geehrte Mütter … Aber man hatte schon dagegen entschieden. Es wäre ohnehin nur eine Notlösung gewesen, weil meine Mutter Schwierigkeiten hatte, unsere Miete zu

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