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Das große Leuchten (German Edition)

Das große Leuchten (German Edition)

Titel: Das große Leuchten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Stichmann
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Pferd auf den Turm stellen oder die gesamte Bauernreihe vier Felder vorrücken – die einzige Regel bestand darin, dass jeder Zug möglichst überraschend aussehen musste. Und dass man immer einen Namen für die Variante erfinden musste, die man gerade benutzte.
    «Russische Eröffnung», sagte Robert.
    «Italienische Schleuder.»
    Er nickte, wir setzten unsere Züge, aber ich fand, dass das Spiel mittlerweile anders aussah und viel weniger Spaß machte, als im Jahr davor. Während ich bei jedem Zug ernsthaft nachdachte und versuchte, eine Struktur im Spiel zu erkennen, setzte er seine Figuren wahllos, er verstand nicht, dass sie auf eine ganz spezielle Weise sinnlos aussehen sollten.
    «Lass dich mal darauf ein, richtig Chaosschach zu spielen, wie letztes Jahr», sagte ich.
    «Ich spiele wie immer.»
    Aber dann setzte er nur wieder die Bauern auf die Türme, was das Phantasieloseste war. Was weder ein neues Muster ergab, noch ein Muster brach.
    «Spanische Burg!», sagte er dazu.
    «Deutsches Matt», sagte ich.

    Lichtflecken wanderten über das Feld, die Schatten der Figuren lösten sich auf. Die Himmelsstückchen in den Baumkronen waren blaue Blätter. Für Momente war es still, als wäre unser Leben jetzt schon an ein Ende gekommen, als wären wir, hier am Ende der Welt, in ein heißes grünes totes Nichts hineingeglitten – aber dann setzten sich das Rauschen und das Knacken und der Wind wieder in Gang, und auch Roberts sanfte, tastende Stimme war wieder da. Er las mir aus einem der Bücher vor, die wir uns aus Frances’ Bibliothek geholt hatten, es hieß Das Abc der Parapsychologie , und es hatte etwas Betäubendes und Beruhigendes, ihm zuzuhören. Zumindest wenn er einfach nur vorlas und nicht anfing, Erklärungen abzugeben. Wenn wir über übersinnliche Begabungen diskutierten, gab es sowieso nur Streit – er redete von Wundern und glaubte daran, während ich sagte, dass so was immer mit psychischen Mutationen zu tun haben musste. Gehirn-Fähigkeiten, die manche Menschen eben hatten, so wie ich meine Fähigkeit hatte, an guten Tagen einen Blick auf die Ordnung hinter den Leuchtfarben zu werfen.
    «Du kannst nicht einfach so magische Fähigkeiten haben», sagte er. «Nur ganz wenige Menschen im Mittelalter hatten diese Kräfte!»
    «Es gibt nichts Magisches, das ist es nicht», sagte ich. «Du verstehst nicht, worum es geht.»
    Es war genau wie beim Chaosschach, sagte ich mir, er dachte vielleicht kurz in die richtige Richtung, aber am Ende kam doch nur Unsinn dabei raus.

    Manchmal wiederholte er eine Geschichte vom Vortag, und es war, als würden die Tage verschwimmen, und an einem der Tage schlenderte Ana auf die Lichtung, ganz nebenbei. Ich wusste, dass sie es war, aber ich dachte, dass sie es eigentlich nicht sein konnte – sie sah viel jungenhafter aus, als ich sie mir vorgestellt hatte. Sie trug Jeans und einen schwarzen Kapuzenpullover, eine Hand in der Hosentasche, in der anderen eine Birne. Ihre langen schwarzen Haare waren verwuschelt, sie ließ sie sich in die Stirn fallen, guckte an uns vorbei – als wäre es vollkommen uninteressant, dass hier zwei Jungs mit einem Schachtisch auf der Lichtung saßen.
    Robert bekam gar nichts mit, er blätterte im Buch. Ich wollte ihm grade Bescheid sagen, aber in dem Moment biss sie in die tropfende Birne – und als sie hochsah, gingen unsere Bewegungen ineinander, als wäre eine gleichmäßige, weiche Mechanik ausgelöst worden auf der Lichtung. Und das ist genau die Sekunde , sagte eine Stimme in meinem Kopf, das ist doch der Moment, den du die ganze Zeit herbeigearbeitet hast.
    Bis auf die Tatsache vielleicht, dass ich sie mir etwas anders ausgedacht hatte. Aber dann sieht sie eben genau so aus, wie ich sie mir hätte vorstellen müssen , dachte ich. Mit ihrem etwas zu großen Pullover, mit ihren schwarzen Augen und dem leichten Silberblick darin.
    «Ist was?», sagte Robert.
    «Siehst du sie nicht?»
    Er drehte sich um, aber sie war schon abgehauen, und ich zweifelte einen Moment, aber sie war da gewesen, auf dem Waldboden lag die Birne.

3
    Wir trafen sie am Waldrand, zwei Wochen später. Sie nahm uns mit zu einem Ruderboot, das am Ufer des Flusses festgemacht war, stellte ihre Springerstiefel auf den Rand und sah über das Wasser, die Augen verschwörerisch zusammengekniffen. Ich mochte das. Ich mochte auch ihre kurzen und flüchtigen Seitenblicke, als wäre Eile geboten, ihre schnelle, an unvermittelten Stellen lauter und leiser werdende Stimme, zu

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