Das große Leuchten (German Edition)
und mit Weisheit, das sei schon immer so gewesen. Es käme auf den Kulturkreis an und auf die Epoche – mal verbrenne man den Zwiegesichtigen, mal baue man ihm Kirchen, mal schicke man ihn in die Psychiatrie, mal lasse man ihn ein ganzes Land regieren.
«Der Schizophrene in der Geschichte» , erklärt er. « Religionsgründer und Ketzer . Hab ich mal ein Buch gelesen.»
Mutter Merizadi nickt ganz zufrieden, obwohl sie ihn nicht verstanden haben kann, denn er sagt es nur auf Deutsch. Aber auch ich verstehe es nicht, zumindest bin ich mir nicht sicher, ob er es ernst meint. In seinem Lächeln ist etwas ungewohnt Selbstironisches, als wollte er witzig sein und nebenbei sticheln, weil er besser mit dem Derwischmann fertig geworden ist als ich. Mir fallen seine Bartstoppeln auf und sein irgendwie ausgeprägteres Kinn – als wäre es in der letzten Nacht etwas nach vorne gewachsen.
Jesus, sagt er, sei ja auch schizophren gewesen. Andernfalls hätte er doch kaum Gottes Stimme hören können. Oder zum Beispiel auch Newton. Dem sei ja ein Apfel auf den Kopf gefallen.
«Ja und?», sage ich. «Und wieso überhaupt Jesus? Du glaubst doch selber an Jesus.»
«Ich bin ja auch schizophren», erklärt er mir.
Von Mutter Merizadi gibt es dazu ein gutgelauntes Nicken. Sie meint aber nicht Robert, sondern die Landschaft draußen. Er sieht mich einen Moment vollkommen ernst an, vollkommen klar und selbstbewusst. Und reicht mir seine handwarmen Pistazien rüber.
Sphinx Robert, denke ich. Mit seinen Pusteln am Hals.
Wobei er nach und nach eine angenehm ansteckende Geselligkeit entwickelt, sogar der Vater beginnt jetzt zu reden. Es geht um deutschen Motorsport und Michael Schumacher. Er lächelt sogar zum ersten Mal kurz. Als wollte er eigentlich nicht emotional sein, wäre es aber doch.
«Mein Vater kennt sich mit Autos und Autosport aus», sagt Abu. «Er ist der beste Taxifahrer bei sich im Unternehmen!»
Während Robert ganz unbekümmert anfängt, über mich zu sprechen, als wäre ich irgendwie zu verkrampft und er müsste jetzt an meiner Stelle reden.
Dass ich ja damals mit Ana von zu Hause abgehauen sei, weg von ihm und seiner Mutter, und dass er aber noch eine ganze Weile mit mir gekommen sei, auf seine Art, nämlich in Gedanken. Das merke er jetzt, wenn ich ihm davon erzähle. Wobei er heute, anders als früher, nicht mehr glaube, dass wir seelenverwandt sind. Also keine Brüder oder etwas in der Art. Eher Freunde. Er sei mir also nicht mehr böse, dass ich einfach so abgehauen bin, das nicht – aber wir seien da sehr unterschiedlich, sehr unterschiedliche Freunde eben. Er bleibe eher zu Hause und lese und beschäftige sich geistig, während ich unbedingt herumrennen und mich an äußeren Dingen abarbeiten müsse. Ich sei da in gewisser Weise vielleicht noch etwas jünger. Ich wisse noch nicht, dass alles innen ist, dass es die inneren Dinge sind, mit denen man kämpft.
Abu hört nach der Hälfte auf zu übersetzen, etwas beschämt, weil Robert eigentlich nur zu mir redet. Aber ich kann auch nichts sagen. Ich hatte mir fest vorgenommen, ihn darauf anzusprechen, ob er noch sauer ist wegen früher – anscheinend kann er jetzt auch Gedanken lesen und antwortet schon, bevor ich frage.
Draußen: flaches Land.
Termitenhügel, die in der Sonne zittern.
2
Später, als es schon dunkel ist, hänge ich mit dem Gesicht an der Rückscheibe, weil ich hinter uns diesen grünen Pkw entdeckt habe. Abu sieht sich auch um und sagt, da sei nichts, aber ich erahne ihn immer wieder in der Ferne: Er scheint ein Stück über der Straße zu schweben, was wohl an der Luft liegt, die immer noch kocht. Auch an dem unregelmäßigen und verschiedenfarbigen Licht der vereinzelten Laternen, die inzwischen angegangen sind und eigentlich nur Verwirrung stiften.
Der Pkw des Soldaten aus Teheran – zumindest sieht es ganz danach aus. Er ist immer nur kurz in Sichtweite, fällt dann geschickt zurück, wird wieder von der Dunkelheit verschluckt.
Mutter Merizadi sagt, ich solle mir keine Sorgen machen, nur weil ich ein grünes Auto sehe, das sei sicher ein Zivilist. Und außerdem sei das Kaspische Meer ein guter und sicherer Ort, an dem Ana sich bestimmt wohl fühle, sodass also alles bestens sei. Die Leute am Kaspischen Meer seien insgesamt freier und internationaler, von ein paar Ausnahmen abgesehen – sie freue sich schon darauf. Im Übrigen finde sie es sehr schön und romantisch, am Kaspischen Meer seine Freundin wiederzutreffen, Ana werde
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