Das große Leuchten (German Edition)
Nacht, in engem Körperkontakt mit Mutter Merizadi, die neben mir auf der Rückbank sitzt und wieder genauso fröhlich redet wie zuvor.
Ab und zu klafft eine Lücke auf im Dickicht, und Sonnenlicht flutet herein: plötzliche, irreal tiefe Täler, winzige Dörfer, bis das kühle Grün wieder dazwischenrauscht. Auf der Straße hinter uns weit und breit kein Auto, kein grüner Pkw, ich beschließe, mich jetzt wirklich zusammenzureißen. Ich denke an heute Abend. Ich überlege, ob Ana anders aussehen wird in dieser Umgebung.
Robert redete mit Abu über Sima Bina. Wir haben ihm nichts erzählt.
Mutter Merizadi ruft bei ihrer Familie an. Sie sagt Bescheid, dass wir gegen sechs Uhr ankommen, und gibt schon mal die Adresse von Anas Mutter durch, schickt per Telefon einen Onkel namens Bizhan los, um sie zu holen. Sodass wir, sagt sie, später gemeinsam zu Abend essen können.
Ana und ihre Mutter und die Merizadis und wir.
Opa Kavehs Orangenfarm öffnet sich wie ein dunstiger Traum auf einer Lichtung zwischen zwei Wäldern, als wir aus dem Auto steigen. Nicht weit vom Kaspischen Meer entfernt, in der ersten Abenddämmerung. Hier und da liegen vermoderte Wagenräder im hohen Gras, schmale verrostete Schienen verlaufen im Gebüsch, wie bei einer Goldmine. Geruch von Schlamm und Zitrone, etwas Salz in der Luft.
Wir treten durch ein halbversunkenes gusseisernes Tor, und dahinter geht es auf einem Hängebrückchen über einen seichten, brackigen Fluss zur Mitte der Farm, zu diesem zerfallenen, aber reichverzierten Haus: Löwenköpfe stützen die Fenster, über dem Eingang umarmen sich Schlange und Adler. Auf der Terrasse davor sitzt schon die ganze Familientruppe auf Teppichen zusammen.
Gefühlt hundert Augen.
Die uns da entgegenblinzeln.
Tatsächlich kennen sie sogar schon unsere Namen. Ich schüttle Hände und höre immer wieder Rupert Robert Rupert Robert , während die bunten Glühbirnen in den Orangen-, Papaya- und Granatapfelbäumen heller und dunkler werden. Irgendwo gibt es einen Generator, der offensichtlich nicht ganz funktioniert. Weiter hinten sind zwei große Zelte aufgebaut, weil nicht alle im Haus Platz fänden, erklärt Abu, und weil es außerdem ein paar Verwandte gebe, die ihren Rückzugsraum bräuchten, die dort ihren Gebeten nachgingen oder etwas Ähnlichem, ich verstehe es nicht ganz.
Ein Großfamilientreffen, in dem wir uns hier wiederfinden.
Und das anscheinend zufällig grade heute stattfindet.
Ich sitze neben Vater Merizadi und Abu im großen Sitzkreis auf dem weichen Teppich vor dem Haus.
Wobei ich eigentlich in ihnen sitze.
Ich versuche, irgendwie wegzurutschen, weil ich nicht unhöflich sein möchte, aber sie quetschen mich von beiden Seiten zusammen, und es scheint so gedacht zu sein: Der ganze Sitzkreis sitzt mehr oder weniger ineinander, tatsächlich sind es etwa sechzig Leute, deren Namen Abu nach und nach nennt. Dina, Sami, Sina, Mina, Ali, Kira, Kian … Und als ich die Augen zusammenkneife, kommt es mir vor, als bestünde die ganze Familie überhaupt nur aus einem einzigen Körper. Ein einziges, großes, gemütliches Wesen mit vielen Händen, die Mücken verscheuchen und Weintrauben in Münder stecken.
Mit einem einzigen Gehirn ausgestattet, denke ich.
Mit einer einzigen großen Familienwirklichkeit, in einem geordneten Gemeinschaftsgehirn.
Zumindest wandern das Obst und die Tabletts mit den Fladen wie von selbst durch die Runde. Dazu gibt es unter anderem Schafskopffleisch mit gelbem Fett. Ich sehe zwei Häufchen Hirn in bemalten Porzellanschüsselchen vorbeischweben und die Schafsköpfe selbst auf einem Tablett, komplett mit Zähnen und Gesichtsausdruck. Zur Dekoration. Robert streckt seinen Teller vor, während ihm von beiden Seiten etwas angeboten wird. Es habe mit Naturverbundenheit zu tun, das zu essen, sagt er zu mir. Auch mit Heimatverbundenheit und mit Ursprünglichkeit. Überhaupt gebe es hier einiges zu lernen für uns, die wir ja doch etwas degeneriert seien durch unsere Hippiemütter.
Die Solidarität, sagt er. Dieses Gemeinschaftsgefühl. Wie hier alle eine Sprache sprächen, jetzt im übertragenen Sinne. Und die Sanftheit der Frauen. Oder die Männlichkeit der Männer.
Ich sage nichts, ich nehme den Mokka entgegen, den Abu uns in winzigen Tassen serviert, schwarze Löchlein, vor denen wir schweigend sitzen, während aus einem knackenden Gebüsch ein weiteres Auto bricht. Ganze Mengen von Körperteilen entsteigen dem Wagen und sortieren sich locker dazu. Die
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