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Das große Leuchten (German Edition)

Das große Leuchten (German Edition)

Titel: Das große Leuchten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Stichmann
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weil sie grade erst mit Abtrocknen fertig ist und sich anzieht. Etwas klackert: Das sind ihre Stöckelschuhe, ich sehe es aus den Augenwinkeln. Sie hat bestimmt zehn Paar da und probiert sie an, geht einen Schritt, hantiert dann mit einem Schuhlöffel herum, anscheinend sind sie alle zu eng, wie sie da durcheinanderfallen: blutrot, rosenrot, weinrot, karmin. Und als ich mich traue und sie wieder richtig ansehe, steht sie in einem hellroten Kleid da und bindet sich eine große, rosafarbene Schleife um den Bauch. Und ihr Gesicht könnte tatsächlich das Gesicht von Anas Mutter sein – aber sie ist etwas zu jung.
    Ich halte ihr das Babyfoto von Ana hin. Sie wirft nur kurz einen Blick darauf und geht lächelnd zum Waschbecken, um sich einen Plastikschmetterling ins Haar zu stecken. Ihr Blick im Spiegel ist stolz, mit einem vertrauten neugierigen Glänzen, vielleicht eine Cousine oder Halbschwester von Ana, denke ich – halte ihr noch mal das Foto hin, aber sie dreht sich weg, beißt sich auf die Unterlippe, nimmt etwas aus dem Regal und stöckelt hin und her.
    «Deutschland?», fragt sie.
    «Kennen Sie Simin?», sage ich.
    Sie drückt mir die Hälfte eines klebrigen Zeugs in die Hand, von dem sie selbst geschickt abbeißt. Etwas Honigähnliches, das sofort flüssig wird. Ich schmiere es mir in den Mund, während sie mir endlich das Foto abnimmt, während sie vieldeutig lächelt. Und geht.

    Durch zwei offene Eisentüren kann ich ihrem Schatten folgen, merke dann, dass die Türen hinter mir zugefallen sind, drehe mich aber nicht um, öffne lieber schnell die nächste Tür – ein leerer Flur.
    Eine nackte Glühbirne in der Zugluft.
    An der Wand hängt Ruhollah Khomeini als Ölgemälde, mit diesem strengen, geistlichen Blick, unpassend – vielleicht ein Scherz.
    Es ist ein Treppenhaus aus Beton, das jetzt nach und nach im Dunkeln entsteht. Eine kühle Riesenwelt von Treppenhaus. Licht kommt nur von den Fenstern ganz oben unter dem Dach, diesiges Mondlicht, das alles gestreift graublau wirken lässt – die Fenster sind vergittert. Es sieht aus, als wäre auf dieser Seite des Gebäudes an allem gespart worden, die Stufen aufwärts sind mit Pappkartons und Brettern bedeckt, der kleine Flur der Etage über mir ist voller Müll, leblos. Die rote Frau kann nur abwärtsgegangen sein.

    Als ich im Halbdunkeln tastend die nächste Zwischenetage erreiche und Augen sehe, erschrecke ich, weil es Äuglein sind, unschuldige Äuglein von Kindern. Es sind zwei Paare, und sie sind nur ganz kurz zu sehen, weil unten ein Licht an- und wieder ausgegangen ist. Dann sehe und höre ich sie nicht mehr, vielleicht sind sie in einer der Türen verschwunden, die eher vage Löcher im Beton sind als richtige Wohnungseingänge.
    Aus einem der Löcher kommen Stimmen.
    Zwei streitende Menschen.
    Ich steige über Schutt hinweg, und als ich grade an dem Loch vorbei bin, kommt ein bärtiger Mann in einem beigefarbenen Gewand raus und sagt etwas zu mir, fasst sich an den Kopf und geht wütend nach oben. Die Frau drinnen schimpft alleine weiter. Wahrscheinlich handelt es sich um so was wie Sozialwohnungen, denke ich, arme Leute, die hier untergekommen sind?
    In der nächsten Etage sehe ich schon wieder Kinder. Da stehen sie mit den Fäusten um die Geländerstangen und gucken zu mir hoch. Ganz stumm. Etwa zehn Mädchen und zwei oder drei Jungen. Aber so, dass man es lieber nicht sehen möchte: mit Schleifchen und Kleidchen, die gar nicht in dieses dreckige Stockwerk passen. Ganz rechts steht ein Junge, dessen Blick uralt ist in seinem schmalen Gesicht.
    Sie weichen zurück, als ich vorsichtig weitergehe. Scheinen Angst vor mir zu haben.
    Dann geht unten das Licht aus und wieder an, und ich sehe keine Kinder mehr, aber Einschusslöcher an den Wänden, abgeblätterten Lack an den Geländerstangen, noch mehr Schutt auf dem Boden, fast bis zur Decke, sodass ich nicht weiterkann.

    Als ich wieder an der Wohnung mit der schimpfenden Stimme vorbeikomme, sind da noch mehr Stimmen – aggressive Männerstimmen, die sich in meine Richtung bewegen. Ich mache mein Feuerzeug an und sehe einen Mann mit einer Glatze und glänzenden Augen. Er sitzt auf einem Plastikstuhl vor der Wohnung und guckt mich an, als hätte er mich schon die ganze Zeit gesehen, als wartete er auf mich. Hinter ihm kommen die anderen Männer, und aus den Augen des ersten verschwindet der Glanz, als ginge jetzt etwas los, für das man diese großen, stumpfen Augen braucht, die er hat. Ich renne

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