Das große Los: Wie ich bei Günther Jauch eine halbe Million gewann und einfach losfuhr (German Edition)
sein, kann einem hier gar nicht passieren.
Und damit wären wir wieder beim Thema: Woran glaube ich?
Daran. An Begegnungen. Daran, sich selbst ein Bild zu machen und nicht das zu glauben, was man zu glauben meint oder was man glauben soll. Hinfahren, hingucken, hinhören– daran glaube ich. Und daran, mich immer wieder eines Besseren belehren zu lassen. Möglicherweise auch durch den Glauben anderer Menschen.
Ich habe mir mit Bedacht den Oktober für Tel Aviv ausgesucht– in diesem Jahr der Monat mit den meisten jüdischen Feiertagen. Gelandet bin ich zu Rosh Hashanah, dem Neujahrsfest nach jüdischem Kalender (unser » Guter Rutsch« geht übrigens vermutlich auf Rosh = Anfang zurück), es folgten der Versöhnungstag Jom Kippur, Sukkot, das Laubhüttenfest, und Simchat Tora, das Fest der Gesetzesfreude.
Ich wusste also, da kommt was auf mich zu. Aber nicht, was.
Als ich am Tag vor Jom Kippur nachmittags noch mal aus dem Haus ging, um schnell etwas für den Feiertag einzukaufen, stand ich allein auf menschenleerer Straße vor verschlossenen Geschäften. Autos fuhren zu diesem Zeitpunkt etwa so viele wie sonst gegen drei Uhr nachts. Über Tel Aviv lag eine Stimmung wie frisch gefallener Schnee. Die Welt war wie ausgeknipst und in Watte gepackt, so leise. Ich glaube, ich hatte zuletzt 1973, am autofreien Sonntag während der Ölkrise, ein ähnlich entrücktes Gefühl mitten in einer Stadt. Da erst habe ich verstanden, dass dies nicht einfach nur ein beliebiger Feiertag ist.
Zu Jom Kippur, der wie alle jüdischen Feiertage mit Sonnenuntergang des Vortags beginnt, geht das Land auf Totalentzug. Selbst normalerweise nicht so Strenggläubige fasten für 25 Stunden und trinken nicht einmal Wasser. Es fahren keine Busse und keine Bahnen, der Flughafen ist geschlossen, die Grenzen sind dicht, das israelische Fernsehen stellt seinen Sendebetrieb ein, das Radio schweigt. Es ist der Tag der Ruhe und der Reue. Viele verbringen ihn in der Synagoge, unterbrochen durch eine kleine Mittagsschlafpause.
Ich finde dieses Konzept der konsequent zelebrierten Auszeit absolut bezwingend. Und okay: Ich hatte zwar nicht geplant zu fasten, aber da ja nun mal der Supermarkt geschlossen und der Kühlschrank leer war… Also bin auch ich auf Entzug gegangen, tatsächlich zum ersten Mal in diesem Jahr. Kein Handy, kein Laptop, kein Internet– was mir absurd schwer gefallen ist.
Ich habe gelesen, gestickt, ein bisschen Ukulele gespielt, geschlafen, nachgedacht. Und war dann doch erstaunt, wie schnell der Tag vorbeiflog.
Mit Sonnenuntergang begann der Verkehr wieder über die Ben Yehuda zu brausen, aus den offenen Fenstern drang Tellerklappern und Musik, das Leben ging weiter. Und ich dachte: Das kommt auf die Liste für zuhause. Einen Tag pro Woche alles ausschalten, ganz zur Ruhe kommen, das muss doch gehen. Na schön, vielleicht einen Tag pro Monat?
Was mich überrascht hat: wie undogmatisch selbst Orthodoxe sein können– zumindest in Tel Aviv, in Jerusalem mag das anders sein. Vielleicht liegt es ja am Meer, dem großen Gleichmacher. In der Nähe meiner Wohnung gibt es zum Beispiel den orthodoxen Nordau Beach. Er liegt hinter einem Bretterzaun und trennt tageweise nach Geschlechtern. Sonntags, dienstags und donnerstags können hier die Frauen baden, montags, mittwochs und freitags die Männer, am Sabbat ist geschlossen. Als ich ihn besuchte, lagen dort zu meiner Verblüffung neben orthodoxen Frauen mit verhüllten Haaren, die vollbekleidet schwimmen gehen, etwas abseits, aber ungestört, zwei jüngere Frauen, die sich oben ohne sonnten– Nordau ist trotz oder wegen der strengen Sitten der einzige Strand in Tel Aviv, wo das möglich ist. Die Atmosphäre: gelassen entspannt; wie immer, wenn Frauen unter sich sind. Bisschen wie Damensauna. Bauch raushängen lassen und ungestört ratschen– leben und leben lassen.
Du hattest mich neulich gefragt, ob ich mich nie gefährdet gefühlt habe. Nein, wider besseres Wissen nicht. Wenn man in Tel Aviv durch die Straßen geht, die Dizengoff entlang in die Innenstadt, geht man über eine moderne, hedonistische Boutiquen- und Cafémeile, wie sie überall in Europa zu finden wäre. Keine 100 Kilometer weiter südlich, im Gazastreifen, werden derweil Bombenangriffe auf ein Lager der Al Quds geflogen. Und nichts davon, nicht das Geringste bekommt man hier in der Stadt mit. Ich habe es immer noch nicht geschafft, die Nachrichtenbilder mit meiner eigenen Lebenswirklichkeit zu verbinden.
Aber die
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