Das große Los: Wie ich bei Günther Jauch eine halbe Million gewann und einfach losfuhr (German Edition)
und Ingo Becker, mir wärmstens ans Herz gelegt von einem gemeinsamen Münchner Freund. Die beiden leben seit fünf Jahren hier. Ingo ist Architekturprofessor, er ist für ein Programm zum Bau von 15 Universitäten hierher gekommen, eines der größten deutschen Entwicklungshilfeprojekte in Äthiopien. Ihre Kinder, 18 und 14, gehen auf die Deutsche Schule.
Die beiden nahmen sich Zeit, mich durch die Stadt zu kutschieren, mir die Universität, Ingos Entwürfe für Flüchtlingsunterkünfte und die trostlosen Außenbezirke zu zeigen, aber auch das Nachtleben von Addis. Wir aßen im Juventus Club, einem wunderbar heruntergekommenen alten Sportverein. Abends trifft man sich hier an langen Tischen zu italienischer Pasta, Kinder sausen durch den Raum oder toben sich in der Turnhalle nebenan aus, ein paar Entwicklungshelfer hängen an der Bar ab, in einem Nebenraum tagt eine Pokerrunde.
Das war schon mal gut. Dann wurde es richtig, richtig gut. Ich hatte schon vorher vom Jazzamba gehört, einem Jazzclub im alten Ballsaal des Taitu Hotels, des ältesten Hotels Äthiopiens. 20 Jahre lang war der Saal verwaist, seit Juni spielt hier wieder jeden Abend eine Band. Die Atmosphäre ist großartig: der Saal pickepackevoll mit gut besetzten Tischen, darüber ein paar funzelige Kronleuchter.
Auf der Bühne, wie jeden Freitag, das Addis Acoustic Project, eine noch junge Band mit einer Legende an der Mandoline, Ayele Mamo. In den Fünfzigern und Sechzigern war Addis eine Jazz-Hochburg; als das kommunistische Derg-Regime die Macht übernahm, war es vorbei mit der Freiheit. Doch jetzt finden die alten Musiker eine neue Bühne. Für einen Gastauftritt tritt Girma Negash ans Mikro, ebenfalls ein Held der guten alten Zeit– heute fährt er Taxi. Dann kommt noch Melaku Belay hinzu, einer der besten traditionellen Tänzer der Stadt, spätestens jetzt dreht der Laden völlig durch und ich auch. Die Stimmung ist sensationell. Ein bisschen Buena Vista Social Club, ein bisschen Familienfeier, ein bisschen hysterisch.
Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt so gelöst, so ausgelassen, so glücklich war. Völlig einverstanden mit dem Ort, dem Abend, mit mir selbst. Als ob alle Sterne in einer perfekten Konstellation stünden, die es nur alle tausend Jahre gibt. Unvergesslich und ein großes, großes Geschenk, so etwas erleben zu dürfen.
An einem anderen Abend saßen wir im urgemütlichen alten Haus der Beckers, durch dessen Garten zwei Hunde, zwei Riesenschildkröten, eine Ziegenherde und eine Hühnerschar laufen. Wir guckten Fotos von ihren Reisen durchs Land an, atemberaubend schöne und herzzerreißend traurige Bilder, die meine Frage, was sie hier hält, schon von ganz allein beantworten. Die beiden sagen mir das, was mir schon andere in Addis gesagt haben: » Das Leben hier hat einfach mehr Sinn als zuhause. Es ist frustrierender, aber eben auch ungleich befriedigender als in Deutschland.«
Die Erfahrung, einen spürbaren Unterschied im Leben anderer zu machen, etwas zu bewirken und zu verändern, einen wirklichen Lebenszweck zu erfüllen, das ist es am Ende, was zählt, sagen sie. Was bleibt und was sie bleiben lässt.
Ich saß daneben und hörte stumm zu. Was fange ich eigentlich mit meinen Kräften an, nutze ich sie auf die bestmögliche Weise? Macht es einen Unterschied, ob es mich gibt oder nicht? Selbstverständlich sollen wir nicht alle Entwicklungshelfer werden, Gott bewahre. Aber möglicherweise mehr Sinn und weniger Unsinn produzieren? Wann immer es möglich ist? Und es ist oft möglich, das weiß ich zumindest für mein Fach sehr genau. Ich merke, dass die Reise gerade erst beginnt. Oder genauer: Erst in Deutschland wirklich beginnen wird.
Lieber Jonas, dieser Brief ist viel länger geworden, als ich geplant hatte; ich fürchte, ich habe Dich ziemlich zugetextet. Aber ich bin so berührt und begeistert von diesem Land– gerade weil ich vorher so wenig wusste von ihm–, dass ich mich nicht bremsen konnte. Um Pascal zu zitieren: » Bitte entschuldigen Sie den langen Brief, ich hatte keine Zeit, einen kurzen zu schreiben.«
Und langsam muss ich mal ins Bett. Morgen, an meinem letzten Tag hier, will ich den Great Ethiopian Run mitlaufen, einen Zehn-Kilometer-Lauf durch Addis. Es muss ein Riesenspaß sein, ein ambulantes Volksfest, da muss ich einfach dabei sein. Vor diesem Monat hätte ich nie und nimmer geglaubt, dass mich ausgerechnet Äthiopien so sehr ins Herz treffen würde. Einmal noch gemeinsam mit ein paar
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