Das grosse Maerchenbuch - 300 Maerchen zum Traeumen
zweiten Schildwache und mit der dritten, und zum vierten Male wollte es Niemand probiren, ob der König gleich eine große Belohnung darauf setzte. Damals war aber gerade am Hofe von England ein fremder Schneidergeselle. Er war auf seiner Wanderschaft dahin gekommen, und weil er so gut arbeitete, ließ ihn der König nicht mehr fort, ob er gleich gar dringend darum bat, weil er das Heimweh hatte. Der machte nun einen Anschlag, wie er sich auf gute Art aus dem Staube machen möchte und als er glaubte, es würde so gelingen, trat er vor den König und sprach: „Herr König, wollt ihr mir diesen Abend einen Säbel, eine Patrontasche und ein Gewehr geben lassen, so will ich hinausgehen und bei der Prinzessin Schildwache stehn.“ Darob lobte ihn der König sehr und ließ ihm das Verlangte geben. Der Schneider ging damit ganz keck über die Straße und zum Tor hinaus; als er aber draus war, dachte er mit keinem Gedanken mehr an die Prinzessin, sondern machte rechts um und lief fort, was er laufen konnte. Da hörte er sich auf einmal bei Namen rufen, er hielt an und sah sich um, da stand ein klein alt Männlein vor ihm und sprach, er solle doch kein Narr sein und fortlaufen, er gehe ja seinem eignen Glücke durch. Wie er das meine? fragte der Schneider. „Ei,“ sagte das Männchen, „wenn du gescheut bist, so gehst du zurück und bleibst heute Nacht in dem Kapellchen, ich will dir sagen, wie du es anfangen musst, dass du die Prinzessin erlösest und König wirst.“ Der Schneider wollte Anfangs Nichts davon wissen, doch endlich ließ er sich einreden und fragte, wie er sich dazu anstellen müsse, dass ihm nicht auch das Genick gebrochen würde? Da sagte das Männchen, er solle nur in die Beichtkammer der Kapelle gehn, darin läge eine Reihe von Leichen und mitten darin sei noch ein Platz frei, da solle er sich hineinlegen und sich durch Nichts irre machen lassen, was auch geschehen möchte. Dem Schneider steckte nun das Königwerden so im Kopf, dass er richtig umkehrte in die Kapelle und sich mitten zwischen die toten in der Leichenkammer hineinlegte. Um eilf Uhr sprang der Sarg auf, die Königstochter von England stieg heraus, kam in die Beichtkammer und fing an, die Leichen zu zerreißen und zu fressen. Der Schneider war mehr tot als lebendig, indem er ihr so zusah, wie sie dem einen toten ein Bein abfraß und dem andern einen Arm und die Stücke in der Kammer herumwarf. Als es aber zwölf Uhr schlug, stieg die Prinzessin wieder in ihren Sarg, der Deckel klappte über ihr zu und Alles war vorbei. Der Schneider stieg jetzt auf und stellte sich auf seinen Posten neben den Sarg. Des andern Morgens in aller Frühe kam der König mit dem ganzen Hofstaat herausgefahren, freute sich gar sehr, dass der Schneider noch lebte und nahm ihn in seiner eignen Kutsche mit nach Haus. In die Kapelle ließ er aber das allerbeste Essen aus der Schlossküche und ein ganzes Fass voll Wein bringen, damit der Schneider in der folgenden Nacht sich daran stärken könne. Dem wurde es aber doch ganz bang zu Mut, als es dunkel wurde und er wieder hinaus musste. Wenn du dießmal hingehst, frisst sie dich gewiss! dachte er, als er vor dem Tor draus war und machte rechtsum und lief fort, dießmal aber einen ganz andern Weg, damit ihm das Männchen nicht begegnen sollte. Wer ihm aber doch begegnete, das war das Männchen. „He! guter Freund!“ rief es ihm auf einmal zu, „wohinaus so eilig?“ Da sprach der Schneider, dießmal gehe er nicht mehr hin, und wenn er hundertmal König werden und hundert Prinzessinnen heiraten sollte. Das Männchen sprach ihm aber gar freundlich zu, er habe jetzt die Hälfte schon vollbracht und brauche nur noch die eine Stunde auszuhalten, er wolle ihm ja sagen, wie er sich anstellen müsse, damit ihm an Leib und Leben Nichts geschehen könne. Der Schneider dachte, es wäre doch immerhin schön, wenn er schon den andern Tag Hochzeit halten könnte und ließ sich zum zweiten Male bereden. Das Männchen sprach jetzt, er solle getrost wieder hingehen und sich zwischen die toten legen, wenn aber die Prinzessin wieder da sei und so recht gierig an einer Leiche fresse, so solle er hinter ihr vorbeischleichen, bis vor den Altar und statt ihrer in den Sarg steigen.
Und so tat er's. Um eilf Uhr kam die Königstochter wieder und machte sich über die Leichen her wie ein Wolf, riss eine nach der andern von einander, warf die Gebeine in der ganzen Kirche herum und schrie dabei in Einem fort: „Ich krieg dich doch, du magst
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