Das grosse Muminbuch
sie erkundigte sich, wie viel Zeit ihr bleiben würde, ging nach Hause und überlegte. Ein paar Wochen - das ist ja nicht so viel!
Sie erinnerte sich plötzlich daran, dass sie in ihrer Jugend den Amazonenstrom hatte erforschen wollen, Tiefseetauchen hatte sie lernen wollen, ein großes lustiges Haus für einsame Kinder hatte sie bauen wollen, und zu einem feuerspeienden Berg hatte sie fahren und für alle ihre Freunde hatte sie ein Riesenfest veranstalten wollen. Aber all das war nun zu spät, natürlich! Und Freunde hatte sie auch keine, weil sie immer nur hübsche Gegenstände gesammelt hatte, und so etwas kostet Zeit.
Während sie hin und her überlegte, wurde sie immer melancholischer. Sie wanderte in ihren Zimmern umher und suchte bei ihren Habseligkeiten Trost. Aber diese konnten sie auch nicht fröhlicher machen. Im Gegenteil, sie dachte nur daran, dass sie alles auf der Erde zurücklassen müsste Und mit dem Gedanken, dass sie da oben von neuem mit dem Sammeln beginnen musste, konnte sie sich überhaupt nicht befreunden.»
«Arme Frau», sagte Sniff heftig. «Kann man denn nicht eine einzige kleine Sache mitnehmen?»
«Nein», sagte der Mumrik ernst. «Das ist verboten. Aber jetzt sei still und hör zu! Eines Nachts lag meine Großtante in ihrem Bett und grübelte. Um sie herum standen furchtbar viele schöne Möbel, auf den Möbeln standen viele hübsche Nippsachen. Überall standen ihre Besitztümer herum, auf dem Fußboden, an den Wänden, an der Decke, in den Schränken, in den Schubladen - und plötzlich schien ihr, als erdrückten sie alle diese Sachen, die ihr dennoch nicht den geringsten Trost schenken konnten.
Da kam sie auf eine Idee. Die Idee war so lustig, dass meine Großtante zu lachen anfing, ganz für sich allein. Sie wurde plötzlich wieder sehr munter und stand auf. Sie war auf den Gedanken gekommen, dass sie alles, was sie besaß, verschenken wollte, um mehr Luft um sich herum zu schaffen. Das ist notwendig, wenn man einen großen Knochen quer im Magen hegen hat und außerdem in Ruhe an den Amazonenstrom denken will.» «Wie albern», sagte Sniff enttäuscht.
«Gar nicht so albern», wandte der Mumrik ein. «Sie hatte riesigen Spaß daran, sich auszudenken, wer was bekommen sollte. Sieh mal, sie hatte eine große Verwandtschaft und kannte sehr viele Leute. So etwas ist ja gut möglich, auch wenn man keine Freunde hat.
Na also, sie schenkte jedem etwas und überlegte sich auch, was jeder am liebsten haben möchte. Das war ein lustiges Spiel. Übrigens war sie gar nicht dumm. Mir schenkte sie die Mundharmonika. Du hast sicher nicht gewusst, dass sie aus Gold und Palisander ist? Macht ja nichts. Sie erwog alles so klug, dass jeder gerade das bekam, was ihm gefiel und was er sich immer schon gewünscht hatte.
Meine Großtante hatte außerdem Sinn für Überraschungen. Sie verschickte alles in Paketen. Wer so ein Paket aufmachte, hatte keine Ahnung, wer es ihm schickte. (Denn niemand war mal bei ihr zu Hause gewesen; sie fürchtete ja immer, dass man etwas zerschlug.)
Heidenspaß machte es ihr, wenn sie sich vorstellte, wie die anderen überrascht waren und hin- und herüberlegten und rieten.
Auf diese Weise fühlte sie sich irgendwie überlegen.
Ungefähr wie jene Fee, die einfach Wünsche verteilt und dann entschwebt.»
«Ich habe Cedric aber nicht als Paket verschickt», platzte Sniff heraus und machte dicke Kulleraugen. «Und ich sterbe auch nicht!»
Der Mumrik seufzte. «Du bleibst immer der gleiche! Aber du kannst trotzdem einmal versuchen, eine gute Geschichte anzuhören, die nicht von dir handelt. Denk auch ein bisschen an mich! Diese Erzählung habe ich für dich aufgehoben, manchmal erzähle auch ich gern! Also gut. Gleichzeitig geschah noch etwas anderes. Meine Großtante konnte plötzlich nachts schlafen, tagsüber träumte sie von dem Amazonenstrom und las Bücher über Tiefseetauchen, oder sie fertigte Zeichnungen an zum Haus für die Kinder, die niemand haben wollte. Sie tat Sachen, die ihr Spaß machten, und deshalb wurde sie auch freundlicher als früher, die Leute mochten sie plötzlich richtig gern und waren gern bei ihr.
Ich muss mich in acht nehmen, dachte sie. Plötzlich habe ich Freunde, aber keine Zeit, für sie das große Radaufest zu veranstalten, von dem ich träumte, als ich jung war...
In ihrem Zimmer gab es mehr und mehr Luft. Ein Paket nach dem anderen ging fort, und je weniger sie besaß, desto leichter wurde ihr ums Herz.
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