Das Große Spiel
fühlten. Es herrschte das ungeschriebene Gesetz der Anarchie, jeder gegen jeden. Ungläubig saß der sechsjährige John in der Kutsche, hielt sich an der Sitzbank fest und starrte mit großen Augen hinaus, nicht aus Neugierde, sondern aus Angst, dass er zu diesen entsetzlich verstümmelten Leichen hinausgeschleudert werden könnte. Stundenlang roch es nach verbrannten Haaren, verbranntem Fleisch. Aus den niedergebrannten Gemäuern hörte man erschütternde Schreie, Rufe, Wimmern. Wie konnte so was nur geschehen? Keine fünfzig Jahre nach dem Dreißigjährigen Krieg, der über fünf Millionen Opfer gefordert hatte. Verfügte der Mensch über kein Gedächtnis? War denn das gesamte Leid des Dreißigjährigen Krieges schon wieder vergessen?
Neue Generationen waren auf die Schlachtbank gezogen. Sie kämpften für einen König oder gegen ein Land, für eine Religion oder gegen ein Wirtschaftsabkommen. Sie kämpften und starben und verwandelten Europa in ein loderndes Inferno.
Und in Frankreich versank ein selbst ernannter Sonnenkönig in zunehmender Dunkelheit. Er war bereits mehr als siebzig Jahre alt. Er hatte den größten Teil seines Lebens Krieg geführt. Der Leitspruch »Der König berührt, der König heilt« hatte längst keine Bedeutung mehr. Alles, was der Sonnenkönig berührte, verweste in seiner Hand, er war nichts weiter als »Mäusedreck im Pfeffer«, wie es im Volk hieß, und ganz Frankreich wartete sehnsüchtig auf sein Ableben.
FRANKREICH, 1712
Als die Kutsche der Familie Law mit einem Passierschein von Louis XIV. den verschneiten Grenzposten bei Valencienne passierte, kehrte John Law in ein vollends ruiniertes Land zurück, das für seine Schuldzinsen mehr bezahlte, als es mit den mittlerweile exorbitanten Steuern einnahm. Das Land war bankrott. Epidemien, Hungersnöte, Naturkatastrophen und nicht mehr enden wollende Kriege hatten ganze Landstriche entvölkert. Ein seltsamer Zynismus hatte den Adel erfasst. Man holte die besten Flaschen aus dem Keller und soff. Doch der harte Winter ließ selbst die teuren Weinflaschen gefrieren und platzen. Draußen erfroren Menschen. Tausende. Sie wurden von der verschneiten Landschaft verschluckt und waren nach einigen Tagen nur noch eine kleine Erhebung unter der Schneedecke. Einige kauerten noch am Straßenrand, vom Neuschnee gepudert wie Fabelwesen aus einem bösen Traum. Sie saßen da, erfroren, steif wie Mörtel.
Als die Kutsche der Familie Law die Vororte von Paris erreichte, wurden die Reisenden von Bettlern und Kranken in Empfang genommen. Wimmernde Menschen in Lumpen. Große, weit aufgerissene Augen, die wie Hände nach den Reisenden griffen. Einige schrien, flehten, weinten, andere schlugen mit Stöcken wütend auf die Kutsche ein. Kinder kauerten wie Tiere auf unbebauten Parzellen und suchten unter der Schneedecke nach Wurzeln und Stauden, die sie kochen und essen konnten. An einer Straßenecke stürmte eine aufgebrachte Menge eine Bäckerei. Etwas weiter marschierten Polizisten mit schussbereiten Gewehren in einer Linie die Straße hinunter. Wenig später hörte man Schüsse, Schreie. Irgendwo stieg eine schwarze Rauchwolke auf. John Law ließ anhalten und wies seine Gefolgsleute an, die Bäckereien im Viertel leer zu kaufen und das Brot an die Bevölkerung zu verteilen.
Als die Kutsche die nördlichen Boulevards der Stadt erreichte, gab es weniger Zusammenrottungen und Tumulte. Schließlich erreichten sie einen von Soldaten abgeschirmten Platz, in dessen Mitte eine pompöse Reiterstatue auf einem meterhohen Sockel thronte. Sie zeigte den Sonnenkönig als römischen Kaiser hoch zu Ross. Die Statue war über und über beschmutzt. Man hatte sie mit Schweinsblasen beworfen, die mit Blut und Exkrementen gefüllt waren. Die pompösen Palastbauten, die den Platz umschlossen, waren einflussreichen Finanziers und einheimischen Steuerpächtern vorbehalten. Die Place Louis-le-Grand war wie ein architektonischer Freiluftsalon entworfen worden, um einer Statue Geltung zu verschaffen. Der Platz war gepflastert, die Häuser mit aufwändigen Säulen, Arkaden und Giebeln verziert. Ein ganzer Stadtteil war zu Ehren einer Reiterstatue geschaffen worden. Hier, an der Place Louis-le-Grand, hatte John Law eine herrschaftliche Stadtvilla erworben.
Zwei Dutzend Bedienstete, Mägde, Köche, Kammerdiener, Kutscher, Gärtner standen im großen Salon Spalier, als John Law mit Catherine und den beiden Kindern John und Kate das Haus betrat. Ein etwa vierzigjähriger,
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