Das Große Spiel
Aura des Neuen, stammte er doch aus fernen Kontinenten, die mutige Handelsfahrer entdeckt und erschlossen hatten. Kaffee war aber auch das einzige brauchbare Mittel, um nach dem Besuch von Bierhäusern, Clubs und Tavernen wieder einigermaßen nüchtern zu werden, um am Morgen wieder arbeiten zu können. Der Duft von frisch gemahlenen Kaffeebohnen, der süßliche Qualm von Virginiatabak, die frisch gedruckten Zeitungen und die neuesten Gerüchte vom Hof und den entlegenen Weltgegenden - das war für diejenigen, die es sich leisten konnten, das wahre Leben. Obwohl das »Green Dog« als vornehmes Lokal galt, ging es zu so später Stunde wüst zu wie in einer Kaschemme.
»Venedig hat eine Lotterie eingeführt. Haben Sie davon gehört, Sir?«, schrie Thomas Neale gegen den allgemeinen Lärm an. Er reichte dabei die Tonpfeife an seinen Nachbarn weiter.
»Aber ja. Holland will auch eine staatliche Lotterie einführen«, entgegnete Law laut, »aber ich missbillige Lotterien aus moralischen Gründen. Sie machen den Ärmsten falsche Hoffnung und ziehen ihnen nur das letzte Geld aus der Tasche.«
»Nein, nein, Sir«, dröhnte Thomas Neale. Seine Stimme klang wie die eines Arbeiters im Nordosten der Stadt, wo Manufakturen und Werkstätten wie Pilze aus dem Boden schossen. »Mit einer Lotterie könnte der König den Krieg gegen Frankreich finanzieren. Wir verkaufen staatliche Anteilsscheine im Wert von je zehn Pfund. Insgesamt für eine Million Pfund. Der Zins beträgt zehn Prozent, Laufzeit sechzehn Jahre, das ist enorm. Und der Staat haftet für die Einlage und den Zins. Ähnlich wie in Venedig lassen wir die Anteilsscheine an einer jährlichen Ziehung teilnehmen. Dieser Anteilsschein oder diese Losanleihe oder Staatsobligation oder wie Sie das Stück Papier nennen wollen, wäre also gleichzeitig ein Glückslos. Ich habe ausgerechnet, dass wir jedes Jahr ein Preisgeld von insgesamt vierzigtausend Pfund verschenken könnten. Ich brauchte aber jemanden, der mir den Gewinnplan berechnen kann.«
»Ich verabscheue staatliche Lotterien«, entgegnete Law lauter als beabsichtigt und sah sich vorsichtig um.
Thomas Neale polterte mit der Faust auf den Tisch und verlangte nach einem weiteren Kaffee.
»Ausgerechnet Sie, John Law, wollen mir weismachen, dass Sie Glücksspiele hassen? Sie sind schließlich selbst ein Spieler!«
»Ich spreche von staatlichen Lotterien, Mr Neale. Ich bin nicht der Staat. Und als Bürger bin ich kein bloßer Glücksspieler, Mr Neale. Ich habe eine akademische Spielweise entwickelt. Ich versuche, beim Spielen die Wahrscheinlichkeiten auszurechnen. Ich versuche, die Wissenschaft des Zufalls zu ergründen. Das ist mein Bestreben. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Karte ausgewählt wird? Ich versuche, das Risiko zu kalkulieren.
Das ist ein ernsthaftes Geschäft, Mr Neale. Ich erprobe am Spieltisch Modelle, die eines Tages für einen Staat von Bedeutung sein könnten.«
John Law fiel auf, dass jemand an einem Nebentisch ihrem Gespräch folgte. Es war ein auffällig gekleideter junger Mann, der sich nobler als der König von England gab und einem bewaffneten Gentleman gegenübersaß, der offenbar sein Untergebener war.
Als sie schon gehen wollten, kam ein Zeitungsjunge herein, der die druckfrische »London Gazette« feilbot. Die »London Gazette« erschien dreimal wöchentlich in einer Auflage von siebentausend Exemplaren und galt mittlerweile als wichtiger Meinungsmacher. John Law und Thomas Neale kauften je ein Exemplar. Als Thomas Neale die Münzen sah, die der Junge als Wechselgeld auf den Tisch legte, platzte dem königlichen Münzprüfer der Kragen. Er hielt das Geld hoch und brüllte so laut, dass alle anderen Gespräche verstummten:
»Willst du uns gestutzte Münzen andrehen, du Flegel? Glaubst du, dass wir zu besoffen sind, um zu merken, dass diese Münzen nichts mehr wert sind?«
Die Dame de Comptoir kam herbeigerannt und wollte Thomas Neale beschwichtigen. Aber Thomas Neale klatschte die Münzen auf den Tisch und zeigte auf das Corpus Delicti. Die Seiter der Silbermünzen waren derart flach gerieben, dass sie höchstens noch die Hälfte des ursprünglichen Gewichts und somit auch ihres Wertes hatten.
»Was kann denn der Junge dafür, dass die Münzen schon so lange in Umlauf sind? Ich wette, die sind über hundert Jahre alt.« Die Dame legte die Münzen auf den Tisch zurück und drängte die Umstehenden energisch beiseite. Sie hatte eine anstrengende Nacht hinter sich.
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