Das Große Spiel
Doch Neale echauffierte sich noch mehr und fegte die Münzen mit einer wilden Handbewegung vom Tisch. Dabei stieß er mit dem Ellbogen dem rauchenden Nachbarn die Tonpfeife in den Rachen. Dieser fiel rückwärts von der Bank. Röchelnd fasste er sich an den Hals, als würde er gleich ersticken. Doch plötzlich, und völlig überraschend, erhob er sich wieder und donnerte Neale die Faust ins Gesicht. Neale schien einen Augenblick benommen. Er kippte wie ein Sack von der Bank. Als er sich wieder erheben wollte, sprang ihn der andere von hinten an. Innerhalb kürzester Zeit hatte sich eine wilde Keilerei entwickelt. Tassen und Tonpfeifen flogen durch die Luft, Stühle zersplitterten, einige Gäste flohen. Die Wirtin verfolgte die Zechpreller auf die Straße hinaus. Irgendjemand brüllte um Hilfe, verlangte nach dem Konstabler.
John Law blieb die ganze Zeit über ruhig an seinem Tisch. Durch das Getümmel hindurch sah er den jungen Mann, der ihn offenbar trotz des Tumults weiter beobachtete. Auch ohne Fächersprache begriff Law, dass der Fremde irgendetwas von ihm wollte.
Als der Konstabler mit einigen Hellebardieren das Lokal betrat, kehrte sofort Ruhe ein. Der Wachtmeister erkannte gleich den Münzmeister des Königs und fragte ihn, was hier geschehen sei.
Thomas Neale versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Blut floss aus seiner Nase. Und als er sich einen Ruck gab und den Bauch nach vorn drückte, um den Rücken durchzustrecken, erbrach er den französischen Brandy und den schottischen Whisky und den Rum von den Westindischen Inseln und alles, was er an diesem Abend in sich hineingeschüttet hatte, in einem imposanten Schwall über den Bretterboden. Und dann folgte noch ein ganz leiser Rülpser.
Der junge Mann, der John Law so lange Zeit beobachtet hatte, stand nun auf, gefolgt von seinem bewaffneten Begleiter. Beide bewegten sich zum Ausgang. Kurz bevor der Beau an John Law vorbeiging, blieb er stehen und schaute dem Schotten in die Augen. Unter seinem Samtmantel trug der Fremde ein teures Plüschgewand mit goldenen Knöpfen und goldenem Zwirn. Die Perücke musste mindestens vierzig Shilling gekostet haben. Die Handschuhe dufteten nach Mandelcreme. Jedes Lederteil an seiner Aufmachung war mit feinster Jasminbutter eingerieben und so schmiegsam gemacht worden.
»In welchem Salon darf ich Ihre Künste bewundern, Sir?«, fragte er, ohne die Miene zu verziehen.
»Morgen Abend bei Lord Branbury«, entgegnete John Law ebenso ungerührt.
Der junge Mann hieß Edward Wilson, genannt Beau Wilson. Der Mann, der nicht von seiner Seite wich, war Captain Wightman. Ein drahtiger Mensch mit unruhigem Blick. Die einen sagten, dass Captain Wightman Beau Wilson begleitete, um ihn zu beschützen, weil Wilson so vermögend war. Andere behaupteten, dass Wilson sich lediglich deshalb mit einem Leibwächtei umgab, um diesen Eindruck zu erwecken. Männer und ihre Strategien ...
Edward Wilson war in bester Laune, als John Law am nächsten Abend im gut besuchten Salon von Lord Branbury die Karten verteilte. Law hatte das Privileg, die Bank halten und die Karten verteilen zu dürfen. In wenigen Monaten war John Law zu einer Attraktion geworden. Kein Spieler vor ihm hatte es verstanden, derart souverän die Chancen von Karten zu berechnen. Kein Mensch in England verfügte über die Gabe, derart schnell den Einsatz festzulegen, den man für diese oder jene Chance tätigen konnte. Seine exotische Begabung hatte sich wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreitet. Immer mehr Spieler bemühten sich um eine Einladung in den Salon von Lord Branbury.
An jenem Abend erkannte John Law einen alten Bekannten: den Franzosen Antoine Arnauld. Auch er hatte vom Ruf des John Law gehört, und er war gekommen, um sich erneut mit ihm zu messen.
Als in den frühen Morgenstunden die meisten Gäste gegangen waren, saß Arnauld immer noch am Spieltisch. Und spielte. Auch Beau Wilson war geblieben. Und Betty Villiers, die angebliche Mätresse des Königs. Und im Hintergrund, fast verborgen, die mysteriöse Catherine Knollys, die Schwester von Lord Branbury. Nach jeder Partie mischte John Law die Karten neu. Dabei hob er den Kopf und suchte mit den Augen Catherine Knollys. Manchmal hatte er den Eindruck, dass ihre Augen ihm zulächelten, dass sie ihn ermunterte, weiterzuspielen, weiter zu gewinnen, diesen Franzosen Arnauld zu bezwingen. Sie schien wie eine Verbündete. Doch sie reagierte nicht auf seine Signale, auf sein Lächeln, auf seine Blicke. John Law
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