Das Große Spiel
Angst gehabt, ihren jährlichen Unterhalt von sage und schreibe fünftausend Pfund zu verlieren? Wilson hatte bekanntlich jährlich sechstausend Pfund ausgegeben. Das waren immerhin hundertsiebzig Jahreslöhne eines Londoner Handwerkers. Sogar die Londoner Tageszeitung »Greenwich Hospital News Letter« hatte darüber berichtet, aber keinerlei Geschäftstätigkeiten gefunden, mit denen Wilson auch nur ein müdes Pfund hätte verdient haben können. Woher stammte also dieses viele Geld? Nur der König selbst konnte eine derartige Summe aufbringen. War Wilson also zum Staatsrisiko geworden, weil er im Jagdschloss nicht in der Lage gewesen war, seine Zunge im Zaum zu halten? John Law wusste, dass es durchaus Erklärungen geben konnte, die plausibel schienen und dennoch komplett falsch waren. Das Leben verlief nun mal nicht nach mathematischen Mustern. Nicht alles hatte einen Zusammenhang. Selbst der Zufall hatte seine Wahrscheinlichkeiten.
Der Wächter hatte unterdessen mit einer Fackel das Verlies betreten und rief nach John Law. Als John sich zu erkennen gegeben hatte, beugte sich der Wächter zu ihm hinunter und löste die Beinschellen.
»Steh auf und komm mit«, sagte der Wächter. Die anderen Gefangenen begannen sich zu rühren, klagten ihr Leid, wimmerten, versuchten John Law festzuhalten, umklammerten seine Beine und flehten, man möge sie nicht vergessen. Einige riefen Namen von Leuten, die angeblich ihre Unschuld bezeugen konnten. Als John Law draußen im Gewölbegang stand, stieß der Wächter die Tür wieder zu und schob den schweren Riegel mit beiden Händen vor.
»Du hast einflussreiche Freunde, Schotte.«
John Law schwieg. Er wurde in den »King's Block«, den Königstrakt im fünften Stock, überführt. Denn in Newgate wurde nicht nur unterschieden zwischen Gefangenen, die ihre Nahrung selbst bezahlen konnten, und solchen, die mittellos waren, es gab auch möblierte Einzelzellen für die hochgeborene Kundschaft. Die Zellen der Reichen und Berühmten waren geräumige Zimmer, hell, mit Tageslicht und dem Komfort eines einfachen Pferdekutschen-Gasthofs ausgestattet. Hier durften sie ihre mächtigen Freunde empfangen.
Catherine Knollys und Lord Branbury erwarteten ihn bereits. Catherine war sichtlich aufgewühlt, hielt sich aber im Hintergrund. Lord Branbury sprach mit ruhiger, bedächtiger Stimme. Er empfahl John Law, nichts zu gestehen. Das sei am sichersten. Er sagte, dass alle anwesenden Zeugen unterschiedliche Beschreibungen seiner Person abgegeben hätten. Das sei seine Chance.
»Ich habe in Notwehr gehandelt, Lord Branbury. Wilson ist auf mich zugerannt und hat als Erster seinen Degen gezogen. Dafür gibt es Zeugen. Erst danach habe ich meinen Degen gezogen und den Schlag pariert. Wilson ist dabei sehr unglücklich getroffen worden. Womöglich ist er sogar gestolpert.« Catherine Knollys atmete tief durch und schaute ihren Bruder flehend an. Sie hoffte inständig auf ein Zeichen von ihm, dass die Meinung von John Law auch die Meinung des Gerichts sein würde.
»Die Familien Ash, Townsend und Windham haben bereits beim König vorgesprochen. Sie sind allesamt Verwandte von Wilson. Sie behaupten, dass es ein heimtückischer Mord war.«
»Ich sehe dem Prozess gelassen entgegen, Lord Branbury.« John war dreiundzwanzig Jahre alt und in seinem unerschütterlichen Optimismus überzeugt, dass das Gericht ihm folgen würde: »Betty Villiers hat mir berichtet, dass unter König William noch nie ein Mann wegen Duellierens zum Tode verurteilt worden sei.«
Lord Branbury schüttelte enerviert den Kopf: »Dann werden Sie der Erste sein, John Law. Sie sind Schotte. Sie haben die Familien Ash, Townsend und Windham gegen sich. Sie müssen sich die Freiheit nicht erstreiten, sondern erkaufen. Sie müssen die Geschworenen bestechen oder noch besser - aus Newgate fliehen. Begreifen Sie das endlich, John Law of Lauriston. Sie haben schlechte Karten! Sehen Sie das um Gottes willen endlich ein! Sie haben das schlechteste Blatt Ihres Lebens, Sir!«
Catherine Knollys nickte: »Fliehen Sie.Verlassen Sie England!«
»Nein«, erwiderte John Law mit einem seltsamen Lächeln auf den Lippen. Er schenkte dabei Catherine Knollys einen warmherzigen Blick. »England verlassen? Niemals!«
»Dann bestreiten Sie einfach, dass Sie an diesem Tag auf dem Bloomsbury Square gewesen sind. Bestreiten Sie es! Es geht um Ihr Leben!«, flehte Lord Branbury.
»Aber ich habe bereits ausgesagt, dass ich dort gewesen bin. Es wurde
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