Das Grosse Spiel
vielleicht einen mildernden Einfluß auf ihren seltsamen und Angst einflößenden Sohn hätte. Und in gewisser Weise hatte sie das auch. Peter fand sofort Gefallen daran. Lange Wanderungen, querfeldein durch Wälder und hinaus aufs offene Land - manchmal einen ganzen Tag unterwegs, mit nur einem Butterbrot oder zwei, die sich den Platz in dem Bündel auf seinem Rücken mit seinem Pult teilten, mit nur einem kleinen Taschenmesser in der Tasche ...
Aber Valentine wußte es besser. Sie hatte ein halb abgehäutetes Eichhörnchen gesehen, an den kleinen Händen und Füßen mit in den Boden gerammten Zweigen aufgespießt. Sie malte sich aus, wie Peter es in einer Falle fing, es mit Pfählen durchbohrte, dann vorsichtig die Haut zerteilte, und zurückstreifte, ohne in die Bauchhöhle einzubrechen, um die Muskeln sich winden und zucken zu sehen. Wie lange hatte das Eichhörnchen wohl gebraucht, um zu sterben? Und die ganze Zeit über hatte Peter dicht daneben gesessen, gegen den Baum gelehnt, wo das Eichhörnchen vielleicht genistet hatte, und mit seinem Pult gespielt, während das Leben des Eichhörnchens versickerte.
Zuerst war sie mit Abscheu erfüllt und übergab sich fast beim Abendessen, als sie sah, wie Peter so tüchtig zulangte, wie er so munter plauderte. Aber später dachte sie darüber nach und begriff, daß es für Peter vielleicht eine Art Magie war, wie ihre kleinen Feuer; ein Opfer, das irgendwie die dunklen Götter besänftigte, die nach seiner Seele jagten. Besser, Eichhörnchen zu quälen als andere Kinder. Peter war immer ein Züchter des Schmerzes gewesen, jemand, der ihn pflanzte, ihn hegte und ihn dann gierig verschlang, wenn er reif war; besser, er nahm ihn in diesen kleinen, scharfen Portionen zu sich als mit stumpfer Grausamkeit den Kindern in der Schule gegenüber.
»Ein vorbildlicher Schüler«, sagten seine Lehrer. »Ich wünschte, wir hätten noch hundert wie ihn an der Schule. Studiert die ganze Zeit, gibt alle seine Arbeiten pünktlich ab. Er liebt das Lernen.«
Aber Valentine wußte, daß das ein Schwindel war. Peter liebte es zu lernen, gewiß, aber die Lehrer hatten ihm noch nie etwas beigebracht. Er eignete sich sein Wissen durch sein Pult zu Hause an, indem er Bibliotheken und Datenbänke anzapfte, studierte, nachdachte und vor allem mit Valentine sprach. In der Schule jedoch tat er so, als sei er ganz begeistert von der kindlichen Lektion des Tages. Oh, wow, ich hab' nie gewußt, daß Frösche innendrin so aussehen, sagte er, und daheim studierte er dann die Vereinigung von Zellen zu Organismen durch die Übertragung der DNS.
Peter war ein Meister der Schmeichelei, und alle seine Lehrer kauften es ihm ab.
Trotzdem war es gut so. Peter kämpfte nicht mehr. Tyrannisierte niemanden. Kam mit allen gut aus. Es war ein neuer Peter.
Jeder glaubte es. Vater und Mutter sagten es so oft, daß Valentine sie am liebsten angeschrien hätte: Es ist nicht der neue Peter! Es ist der alte Peter, nur gerissener!
Wie gerissen? Gerissener als du, Vater. Gerissener als du, Mutter. Gerissener als jeder, dem ihr je begegnet seid.
Aber nicht gerissener als ich.
»Ich überlege gerade«, sagte Peter, »ob ich dich töten soll oder was.«
Valentine lehnte sich gegen den Stamm der Kiefer, ihr kleines Feuer nur noch glimmende Asche. »Ich liebe dich auch, Peter.«
»Es wäre so leicht. Dauernd machst du diese dummen kleinen Feuer. Man müßte dich nur k. o. schlagen und verbrennen. Du bist eine richtige Brandstifterin.«
»Ich habe schon daran gedacht, dich im Schlaf zu kastrieren.«
»Nein, hast du nicht. Du denkst nur an solche Sachen, wenn ich bei dir bin. Ich bringe das Beste in dir zum Vorschein. Nein, Valentine, ich habe beschlossen, dich nicht zu töten. Ich habe beschlossen, daß du mir helfen wirst.«
»Ach ja?« Vor ein paar Jahren hätte Valentine schreckliche Angst vor Peters Drohungen gehabt. Jetzt aber fürchtete sie sich nicht so. Nicht, daß sie daran zweifelte, daß er sie töten könnte Sie konnte sich nichts noch so Schreckliches vorstellen, von dem sie nicht geglaubt hätte, daß Peter es tun würde. Sie wußte aber auch, daß Peter nicht verrückt war, nicht in dem Sinne, daß er keine Kontrolle mehr über sich besaß. Er hatte eine bessere Kontrolle über sich selbst als jeder andere, den sie kannte. Außer vielleicht sie selbst. Peter konnte jeden Wunsch so lange aufschieben, wie er mußte; er konnte jedes Gefühl verbergen. Und daher wußte Valentine, daß er ihr nie in einem
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