Das große Yogabuch
führt uns immer mehr in die Tiefen unseres Wesens. Dabei wird deutlich spürbar, wo Blockierungen in den Gefühlen und im Geist unsere weitere Entfaltung behindern. Durch die Vertiefungszustände in der Meditation zeigen sich normalerweise nach und nach die Inhalte des Unterbewussten: Ängste, Glaubenssätze, die wir über uns und die Welt angenommen haben, und die Schutzmechanismen und Verteidigungsstrategien, die sich unsere Psyche im Laufe des Lebens aufgebaut hat.
Da sich der Hatha-Yoga als ein ganzheitlicher Übungsweg versteht, hat er Übungen entwickelt, die diese Zustände berücksichtigen und uns helfen, darüber bewusst zu reflektieren oder aber unseren aufgewühlten Geist wieder zu beruhigen, ohne das, was sich zeigen will, zu verdrängen. In diesem Stadium übt man am besten Visualisationen, zum Beispiel Lichtvisualisationen, bei denen das Licht seine reinigende und heilende Wirkung im Inneren entfalten kann, oder Mantras, bestimmte Silben (hierbei wirkt vor allem das Tönen beruhigend) oder Anrufungen, die unseren Gebeten vergleichbar sind.
Wie alle Yogaübungswege erstrebt auch der Hatha-Yoga die Beruhigung des Geistes. Er soll sich befreien können von Fehleinschätzungen hinsichtlich seiner eigenen Natur und seiner eigenen Situation, von Gier, Ablehnung und Angst, kurz, von alldem, was unseren Geist trübt.
Die »wahre Natur« erkennen
Diese geklärte Wahrnehmung macht es uns überhaupt erst möglich, die Dinge in ihrem Sosein, also die wahre Natur einer Sache, eines Menschen oder einer Situation zu erkennen.
Das Ziel auch dieses Yogaweges ist es also, uns in die Lage zu versetzen, das Leben so zu sehen, wie es ist, und nicht, wie es uns scheint oder wie wir es gerne sehen würden. Für die Hatha-Yogis heißt das insbesondere, Gott in allem zu entdecken. Es bedeutet wahrzunehmen, dass alle Äußerungsformen des Lebens – vor allem auch unser eigenes Wesen – göttlich sind und dass in dieser Welt im Grunde alles Teil einer umfassenden Ganzheit ist. Damit wird das Gefühl des Getrenntseins und der Isoliertheit aufgehoben. Vielmehr breitet sich ein Bewusstsein der Einheit aus, und dieser Zustand bewirkt tiefes Entzücken, höchste Wonne und Freude, zusammengefasst in dem Sanskritbegriff Sat Chit Ananda, Seins-Bewusstseins-Glückseligkeit.
Gott – in diesem Fall Shiva – unterweist seine Geschöpfe in den Methoden des Hatha-Yoga, damit sie den Weg zu ihm finden, den Weg zurück zu ihrer Quelle, um dort mit ihm verschmelzen zu können. Deshalb hat der Hatha-Yoga den Beinamen Laya-Yoga, das heißt der »Yoga der Verschmelzung«.
Unser Geist ist wie ein See. Alles, was sich in ihm bewegt, all die Gedanken, Gefühle, inneren Bilder, Erinnerungen bewirken, dass ständig sein Bodensatz aufgewühlt, seine Oberfläche gekräuselt und das Wasser trübe ist. Gelingt es uns, den Geist nach und nach zu beruhigen, sinken seine Inhalte wie die Sedimente im Wasser allmählich zu Boden. Die Oberfläche glättet sich, und das Wasser wird wieder klar. Erst dann sind wir in der Lage, auf den Grund des Sees zu schauen – den Dingen auf den Grund zu gehen –, und wir finden zu einer ungetrübten und, noch wichtiger, unverzerrten Wahrnehmung.
Kundalini – das Potenzial von Bewusstsein und Energie
Das, was in uns mit dem Göttlichen verschmelzen kann, ist das in uns ruhende Potenzial von Energie und Bewusstheit. Es wird in der Mythologie symbolisiert durch eine schlafende Schlange, die zusammengerollt an der Basis unserer Wirbelsäule liegt.
Sie wird Kundalini genannt (Kundala: die Zusammengerollte). Erst wenn die Kundalini mithilfe der Methoden des Hatha-Yoga geweckt wird, rollt sie sich auf und steigt als freie Prana-Shakti (göttliche Bewusstseinsenergie) durch die Chakras zum Scheitelpunkt auf. Dort, im Wohnsitz Shivas, vermählt sich Shakti mit ihrem Gemahl und erfährt dabei die unendliche Wonne, wieder mit ihm vereint zu sein und dort zu verweilen, wo ihr wirkliches Zuhause ist. Folglich hat der Hatha-Yoga auch den Beinamen Kundalini-Yoga oder Prana-Yoga, das heißt der Yoga der bewusst gelenkten Energie, die zum Aufstieg gebracht wird.
Für die Hatha-Yogis ist die Erfahrung Gottes als Bewusstsein/Energie (Shiva/Shakti) das eigentliche Ziel dieses Yogaweges.
In einem ihrer grundlegenden Quellentexte, der Hatha-Yoga-Pradipika (»Die kleine Leuchte des Hatha-Yoga«) heißt es, dass wir, wenn wir dieses Ziel nicht anstreben, uns gar nicht mit den Yogaübungen abgeben sollen, denn dann seien wir Yogis,
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