Das große Yogabuch
Hatha-Yoga
Die Lehre des Hatha-Yoga ist eng verbunden mit dem tantrischen Asketen Goraknath (auch Goraksha genannt), der den shivaitischen Orden der Kanphata- oder Nath-Yogins gründete. Der Begriff Hatha-Yoga taucht ab dem 10. Jahrhundert in Nordindien auf und wurde bald gleichgesetzt mit der ganzen zu dieser Zeit bekannten Vielfalt tantrisch ausgerichteter Yogapraktiken.
Im Hatha-Yoga finden wir viele Anklänge an den Yogaweg Patañjalis, aber auch das Wiederaufleben viel älterer Sichtweisen, zum Beispiel der All-Einheitslehre der Upanishaden ( > ).
Wörtlich übersetzt bedeutet Hatha »gewaltsame Anstrengung, intensives Bemühen«. In der Regel steht allerdings die mystische Übersetzung im Vordergrund: Die Silbe Ha wird mit Sonne übersetzt, tha mit Mond.
Die tantrische Weltsicht
Alles ist Energie
Das Universum und die Schöpfung, die es in ihrer unendlichen Vielfalt und Wandlung belebt, ist für die Tantriker nichts anderes als Energie in unterschiedlich dichter Schwingung. Ein Stein hat zum Beispiel eine dichte, niederfrequente Schwingung. Pflanzen, Tiere und Menschen haben eine höhere und feinere und ein Gedanke oder ein Gefühl schließlich eine ganz hohe, schnelle Schwingung.
Da alles, was je in unserem Universum manifestiert wurde, der Schöpfungskraft Shakti entstammt und damit ein Teil von ihr ist (gewissermaßen ihr »Fleisch und Blut«), ist alles göttlich und damit heilig. Das ist der Grund, weshalb unser Körper im Tantrismus als heilig angesehen wird. Es gibt in diesem System nichts, was niedriger oder höher ist als etwas anderes, es gibt also keine Hierarchie der Reiche (Mineralien, Pflanzen …), sondern alles gilt als gleich göttlich, gleich wichtig und wertvoll für die Gesamtheit der Schöpfung.
Wie innen, so außen
Ein weiterer wichtiger Gedanke ist, dass Mikrokosmos und Makrokosmos identisch sind. Die Bausteine, aus denen sich das Universum zusammensetzt, müssen sich auch im »kleinen Universum« unseres Körpers finden lassen. Den Gesetzen, die den Makrokosmos regieren, ist auch unser Körper unterworfen. Beide Systeme, das größte und das kleinste, beziehen sich ständig aufeinander. Alles ist miteinander in Beziehung, voneinander abhängig und miteinander verwoben (Tantra = Gewebe, Netz).
Wir Menschen, die eingebunden sind in Raum und Zeit und über unseren Körper eine Form angenommen haben (Shakti), sind gleichzeitig mit Bewusstsein (Shiva) ausgestattet. Körper, Geist und Seele beziehen sich ständig aufeinander und beeinflussen sich gegenseitig.
Der Weg des Körpers
Für die Tantriker leitet sich daraus die Idee ab, über das, was uns am besten zugänglich ist – den Körper –, auf unsere Gemüts- und Geistesverfassung Einfluss zu nehmen. Der Hatha-Yoga ist damit ein »Weg des Körpers« (Kaya Sadhana), der jedoch nicht beim Körperlichen stehen bleibt, sondern immer die Gesamtheit des Menschen im Auge behält.
Die vielen Körper-, Atem- und Konzentrationsübungen, die der Hatha-Yoga entwickelt hat, sind in Hinblick auf verschiedene, sich gegenseitig ergänzende Zielsetzungen konzipiert.
Ein Ziel ist es, unseren Körper zu reinigen und von Blockierungen – zum Beispiel bedingt durch Muskelverspannungen – zu befreien, damit die Lebensenergie zirkulieren kann. Dazu dienen vor allem die vielfältigen Yogahaltungen (Asanas) und Bewegungsabläufe (Karanas), die immer in Verbindung mit dem Atem geübt werden, aber auch unsere Konzentration stark fordern. Unser Körper soll gesund sein und sich wohlfühlen, damit er für uns zu einer Quelle der Lust und der Freude wird.
Freude am eigenen Körper
Die Begriffe Lust und Freude stehen in diesem Übungsweg zum ersten Mal in der Geschichte spiritueller Techniken an zentraler Stelle. Insbesondere der Zustand der Freude wird im Hatha-Yoga als eine Möglichkeit angesehen, Gott wirklich erfahren zu können – also nicht nur an ihn zu glauben –, denn Gott ist für die Tantriker gleichbedeutend mit Freude und Glückseligkeit.
Unser Körper soll außerdem stark und ausdauernd sein, damit er uns ein Gefühl von Kraft, Stabilität und Vertrauen vermitteln kann. Die Hatha-Yogis vertreten die Ansicht, dass nur ein starker Körper in der Lage ist, Gott zu erfahren. In dieser Meinung wurden sie durch die genaue Beobachtung von Mystikern und Asketen bestärkt. Gotteserfahrungen und außerordentliche Bewusstseinszustände wie Trance und Ekstase wirken so stark auf das Nervensystem ein, dass ein schwacher Körper häufig mit
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